Grundgesetz: Fundament und Utopie
„Unverletzbarkeit der Wohnung?“ – „Artikel 13.“ — „Pressefreiheit?“ – „Artikel 5.“
Dieses regelmäßig wiederkehrende Abfragespiel ist meine wohl erste Erinnerung an einen Kontakt mit dem Grundgesetz. Diese wenig engagierte Auseinandersetzung fand im Sozialkundeunterricht in der Schule statt. Das Grundgesetz wurde als das unverrückbare Fundament vermittelt, das es, zumindest was die Grundrechte betrifft, auswendig zu kennen galt. Erst im Laufe der Zeit gab und gibt es immer wieder Geschehnisse, die die garantierten Grundrechte mit Leben füllten und ihre Formulierung erlebbar machen.
Für mich zeigen sich im Grundgesetz zwei wichtige Bewegungen: Zum einen ist es eine formulierte Utopie, quasi eine Hoffnung für die Zukunft vor allem nach der Zeit des Nationalsozialismus. Zum anderen ist es aus genau diesem Grund auch eine Art Erinnerungsbuch. Die Grundrechte sind die Garanten elementarer Freiheiten. Diesen gerade einmal 19 Artikeln stehen über 200 gegenüber, die die Organisation des Staates festlegen.
Das Grundgesetz hat seit 1949 immer wieder Veränderungen und Ergänzungen erfahren. Beispielsweise wurden durch Verfassungsbeschwerden weitere Freiheiten erkämpft. Dieser Prozess ist auch noch nicht zu Ende. Es ist die Frage, ob er in einer sich stets verändernden Gesellschaft jemals enden kann.
Zwei Bespiele aktueller Diskussionen seien ins Feld geführt:
Sexuelle und geschlechtliche Identität
Bundes- und europaweite Studien zeigen, dass Menschen aufgrund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität noch immer Diskriminierung erfahren, transidente Menschen in besonders hohem Maße. An intersexuellen Kindern werden weiterhin kosmetische Operationen durchgeführt. Im Juni 2018 wurde in den Bundesrat ein Antrag eingebracht, Artikel 3 Absatz 3 um das Merkmal „sexuelle Identität“ zu ergänzen: Denn das Grundgesetz schützt die Gleichheit und Würde ALLER Menschen.
In Deutschland, Europa und auch international lassen sich Bestrebungen zu einer Abkehr vom freiheitlichen und gleichwertigen Verständnis der sexuellen und der geschlechtlichen Identität erkennen. Die Erweiterung des Schutzes aus Artikel 3 auf Diskriminierung wegen der sexuellen und der geschlechtlichen Identität wäre ein klares, verfassungsrechtliches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Diese geht eben von der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen aus. Die Diskussionen zwischen den Bundesländern laufen noch, aktuell gibt es keine Mehrheit für die Grundgesetzänderung.
Kinderrechte
Ein anderes Beispiel ist die Diskussion um die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz.
Am 5. April 1992 trat in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft, seit nunmehr über 25 Jahren wird über die Aufnahme der Kinderrechte also schon gestritten. Eine traurig lange Zeit. Bislang werden Kinder zwar in Artikel 6 erwähnt, sie sind jedoch nur „Regelungsgegenstand“, also Objekte. Kinder können im Gegensatz zu allen anderen Grundrechtsträgern ihre Rechte an vielen Stelle nicht selbst einfordern. Nach etlichen Initiativen u. a. im Bundesrat gibt es derzeit eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu diesem Thema. Inwieweit die Kinder dort „zu ihrem Recht“ kommen, ist offen.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass das Grundgesetz lebt, mit Leben gefüllt und bei Bedarf auch angepasst werden muss. Aber: Dieses darf nur sehr dosiert geschehen, damit es nicht der Beliebigkeit anheim fällt. Ich denke, dass das Grundgesetz heute eigentlich von kaum jemanden in Frage gestellt wird. Trotzdem gibt es unterschwellig immer mal wieder das Gefühl, es „verteidigen“ zu müssen. Das Grundgesetz lebt von der Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger. Diese Akzeptanz und die damit verbundene Bereitschaft, sich für unsere Verfassung auch einzusetzen, kann nur geschehen, wenn sich die Gesellschaft im Grundgesetz wiederfindet. Denn nur solange die Bürgerinnen und Bürger zum Grundgesetz stehen bleibt es das unverrückbare Fundament, das die Würde aller und unsere Werte schützt.
Michael Thierbach ist ehrenamtlich für Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. als Sprecher der Regionalen Arbeitsgruppe Rheinland-Pfalz tätig.
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