
Andrej Kordochkin war 20 Jahre als Erzpriester in der Maria-Magdalena-Gemeinde in Madrid tätig, die unter der Jurisdiktion der Russischen Orthodoxen Kirche steht. Zu Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 distanzierte sich Andrej Kordochkin ausdrücklich von der Rhetorik und Agenda des Moskauer Patriarchats in Interviews, Artikeln und Predigen. Kurz nach Kriegsbeginn, am 22. März 2022, veröffentlichten rund 300 orthodoxe Priester einen Antikriegsbrief, den auch Andrej Kordochkin unterschrieb. Zudem weigerte er sich, in der Kirche das vom russisch-orthodoxen Patriarchat vorgeschriebene Gebet für den Sieg Russlands im Krieg gegen die Ukraine zu lesen.
Anfang 2023 wurde Andrej Kordochkin das Amt für drei Monate untersagt – ein Warnsignal für mögliche dauerhafte Sanktionen. Der Erzpriester entschied sich freiwillig zu gehen, um seine Gemeinde in Madrid nicht zu belasten und sich mit Würde verabschieden zu können. Kordochkin verließ sowohl seine Gemeinde als auch die russisch-orthodoxe Jurisdiktion und wechselte zur Jurisdiktion des Orthodoxen Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Heute lebt er in Deutschland und arbeitet als Postdoc an der Universität Göttingen, wo er über die theologische Legitimierung des russischen Krieges forscht. Zudem gründete er den Verein Friede Allen e.V., der russische Priester unterstützt, die wegen ihrer Kriegsopposition Repressionen erfahren haben.
Wie beurteilen Sie die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche im aktuellen Krieg?
Die Rolle des Moskauer Patriarchats besteht inzwischen darin, die Ideologien, die im Kreml entstehen, mit einer religiösen Fassade zu versehen.
So wird beispielsweise behauptet, dass alle, die im russisch-ukrainischen Krieg sterben, als Heilige und Märtyrer gelten. Dies schließt selbst Personen ein, die aus Gefängnissen rekrutiert wurden – darunter Straftäter wie Kannibalen, Pädophile oder andere, die schwerster Verbrechen schuldig sind.
Es ist dringend notwendig, diese Ideologien des russisch-orthodoxen Patriarchats auf einer universalen orthodoxen Ebene sorgfältig zu analysieren und entschieden zu verurteilen.
Warum unterstützen so wenige Menschen in Russland den Widerstand gegen den Krieg?
Ein Erklärungsansatz könnte im tief verwurzelten Patriotismus liegen. Kürzlich las ich das Buch Die Kirche im Dritten Reich der russischen Forscherin Ljudmila Brovko. Besonders beeindruckt hat mich ihre Beobachtung zur Frage, warum die Deutschen nicht früher Widerstand leisteten. Sie stellte fest, dass es unter anderem das patriotische Gefühl war, das es den Menschen erschwerte, sich gegen die Propaganda während des Krieges zu stellen. Sie konnten nicht verstehen, wie es möglich sein konnte, auf der Seite ihres Landes zu stehen und dabei dennoch falsch zu handeln.
Ähnliches sehe ich heute in Russland. Oft rechtfertigen selbst gebildete Menschen ihre Haltung mit dem Argument: „Wenn dein Land Krieg führt, musst du es unterstützen. Alles andere ist Verrat.“ Diese Denkweise macht es schwer, zwischen Loyalität zum Staat und moralischer Verantwortung zu unterscheiden.
Hinzu kommt eine verbreitete Überzeugung, dass Politik grundsätzlich „ein schmutziges Geschäft“ sei. Viele glauben, dass moralische Reinheit und politisches Engagement unvereinbar sind. Dieser Zynismus, gepaart mit staatlicher Propaganda, die Menschen einredet, sie könnten ohnehin nichts bewirken, verstärkt die Passivität der Menschen.
Darüber hinaus haben die Menschen in Russland heute tatsächlich kaum noch Möglichkeiten, ihren Willen zu äußern. Sie können weder protestieren noch ihre Meinung publizieren. Jede Antikriegsäußerung wird kriminalisiert und fällt entweder unter das Verwaltungs- oder das Strafrecht.
Gemeindemitglieder und Priester der russisch-orthodoxen Kirche, die sich gegen den Krieg aussprechen, sind leider in der Minderheit – eine weitere Parallele zur Lage im Dritten Reich, als sich auch dort nur wenige Geistliche und Gemeindemitglieder dem Nationalsozialismus widersetzten.
Die Kirche im Dritten Reich war gespalten. Es gab die Bekennende Kirche, die sich gegen die nationalsozialistische Ideologie stellte und die Vereinnahmung des Christentums durch das Regime ablehnte. Sie bildete jedoch nur eine Minderheit innerhalb der evangelischen Kirche. Für mich ist sie ein wichtiges Beispiel für Widerstand in der Kirche. Es schien, als könnten diese Menschen nichts bewirken, doch ihre Arbeit war nicht umsonst. Die Sprache dieser Minderheit wurde nach dem Krieg zur Sprache der Mehrheit. Sie prägten die Worte und Werte, in der die Kirchen nach dem Krieg mit der Gesellschaft über Schuld und Verantwortung sprachen.
Menschen, die Widerstand leisten, haben oft das Gefühl, dass ihr Engagement keine Resultate bringt.
Ich denke, der Sinn von Widerstand liegt nicht nur im Resultat, das eintritt – oder auch nicht. Es geht vor allem um eine moralische Entscheidung des Menschen. Wenn sich jemand für die Position des Widerstands entscheidet, trifft er diese Entscheidung nicht nur, weil er hofft, Einfluss zu haben, sondern vielmehr, weil er sich nach seinen Überzeugungen von Gut und Böse orientiert.
Wie finden Sie in schwierigen Zeiten die innere Kraft, Ihren Überzeugungen treu zu bleiben?
Ich denke, dass jeder, der in Europa oder Amerika lebt, äußerst vorsichtig sein sollte, wenn er über diese Themen spricht. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Risiken, die wir eingehen, in keinem Verhältnis zu denen stehen, denen die Menschen in Russland und der Ukraine ausgesetzt sind.
Ich erinnere mich jedoch an die Worte des russischen Oppositionspolitikers Wladimir Kara-Mursa, als er im August 2024 im Rahmen eines Gefangenenaustausches freikam. Er zitierte den politischen Gefangenen Wladimir Bukowski, der einmal gefragt wurde: „Sie waren im Gefängnis. Wie haben Sie das ausgehalten?“ Bukowski antwortete: „Ich wusste, dass ich im Recht war.“
Diese Aussage verdeutlicht, dass Überzeugungen, die im Einklang mit unseren tiefsten Werten stehen, uns eine unerschütterliche innere Stärke verleihen können.
Gibt es etwas, das Sie der deutschen Öffentlichkeit in Bezug auf die aktuelle Lage in Russland und die russisch-orthodoxe Kirche mitgeben möchten?
Zunächst halte ich es für wichtig, dass wir in Deutschland mit einigen Gleichgesinnten einen Verein namens Friede Allen e.V. (Peace Unto All) gegründet haben. Wir unterstützen Priester, die aufgrund ihrer Anti-Kriegs-Position unter politischer Verfolgung gelitten haben. Unser Ziel geht über finanzielle Hilfe hinaus. Es ist uns besonders wichtig, uns sichtbar zu machen und der Welt zu zeigen, dass die russisch-orthodoxe Kirche kein monolithisches Gebilde ist, sondern dass freier Glaube und freies Denken in ihr lebendig sind. Ich denke, dass Deutschland in diesem Zusammenhang ein besonders guter Ort ist, um über das nachzudenken, was gerade in Russland geschieht. In gewisser Weise durchlebt die russische Kirche, wenn auch mit einigen Einschränkungen, eine ähnliche Situation wie die Christen und Christinnen in Deutschland damals: Die Stimme der Wahrheit und des Glaubens war eine Minderheitenstimme, die mit allen Mitteln unterdrückt wurde. Umso wichtiger ist es heute, diese Stimme zu schützen und ihr weltweit beizustehen.
1 Kommentar
Tatiana
25. Februar 2025 - 18:39Vielen Dank für diese Veröffentlichung. Tatsächlich hat der Angriff Russlands auf die Ukraine unter dem Schutz der Russischen Kirche diese Kirche tief gespalten. Es ist sehr wichtig, die Meinung ihrer Priester zu hören, die sich von der offiziellen Narrative unterscheidet und die Meinung vieler Mitglieder der Kirche zum Ausdruck bringt. Ich bin mir sicher, dass es solche Menschen viel häufiger gibt, als es scheint. Ihnen fehlt nur die Unterstützung durch den Klerus der orthodoxen Kirche. Daher ist diese Veröffentlichung sehr wichtig. Sie ist auch für das deutschsprachige Publikum notwendig, denn dieses glaubt, dass die russisch-orthodoxe Kirche die blutige Aggression Russlands zur Eroberung des Nachbarstaates vollständig unterstützt. Den Deutschen fällt es leichter, so etwas wahrzunehmen, eben weil deutliche Parallelen zur Geschichte Deutschlands zu erkennen sind.