Am vergangenen Wochenende fand die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag statt. Hoffentlich bald wird es eine neue stabile Regierung geben, doch ist es jetzt noch zu früh, über die weitere Zukunft Deutschlands zu spekulieren. Sicherer ist da zunächst der Blick in die Vergangenheit – speziell auf den Umstand, warum überhaupt so früh im Jahr und nicht wie geplant erst im September gewählt wurde.
Nachdem Anfang November 2024 die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auseinanderbrach und Bundeskanzler Olaf Scholz somit keine Mehrheit mehr im Bundestag hatte, stellte er dem Parlament Mitte Dezember die Vertrauensfrage. Er verlor die Abstimmung, was den Weg frei machte für die gestrigen Neuwahlen.
Das Grundgesetz regelt
Die Vertrauensfrage und das damit zusammenhängende Verfahren ist geregelt in Artikel 68 des Grundgesetzes. Hier heißt es unter anderem:
„Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen.“
Art. 68, Abs. 1 GG
Dieses politische Instrument dient dem Bundeskanzler also dazu, sich in kritischen Situationen zu versichern, dass er noch genug Rückhalt im Parlament hat. Das Paradoxe ist: Manchmal möchte er absichtlich wissen, dass er diesen Rückhalt eben nicht mehr hat – so auch Kanzler Scholz.
Denn wird dem Kanzler nicht das Vertrauen ausgesprochen, kann er im Anschluss dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen und somit Neuwahlen in die Wege leiten. Diese können dann dem Amtsinhaber im Zweifel günstigere Mehrheitsverhältnisse bescheren.
Brandt-gefährliches Manöver

Olaf Scholz war (wenig überraschend) nicht der erste, der diesen Weg ging. Vor ihm hat sogar bereits fünf Mal in der Geschichte der Bundesrepublik einer seiner Amtsvorgänger die Vertrauensfrage gestellt.
Anfang der 1970er-Jahre fand sich die von Willy Brandt angeführte SPD-FDP-Regierung mit nicht mehr genügend Stimmen im Bundestag wieder, um ihren Haushaltsplan zu verabschieden. Einige Abgeordnete waren zuvor in die Opposition gewechselt. Brandt stellte deshalb am 20. September 1972 die Vertrauensfrage, die er bewusst verlor. Bundespräsident Gustav Heinemann löste den Bundestag sofort auf, die folgende Bundestagswahl gewann Brandts Koalition deutlich – ein riskantes, aber in diesem Fall geglücktes Manöver des SPD-Kanzlers.
Eine andauernde Hassliebe
Knapp zehn Jahre später gab es (wieder) Spannungen in der SPD-FDP-Koalition – dieses Mal nicht nur bezüglich des Bundeshaushalts, sondern auch wegen der Sozialpolitik und des NATO-Doppelbeschlusses. Kanzler Helmut Schmidt stellte deshalb am 3. Februar 1982 die Vertrauensfrage.
Er gewann zwar die Abstimmung, doch SPD-interne Streitigkeiten und auch solche mit der FDP bestanden weiter. Im September sprengten die Liberalen schließlich die Regierung und beförderten Schmidt in Zusammenarbeit mit der Union durch ein Misstrauensvotum aus dem Amt.

Verfassungsmäßig erstmal fragwürdig
Um seiner neuen Regierung demokratische Legitimation zu verleihen, wollte Helmut Kohl nun schnellstmöglich Neuwahlen herbeiführen. Der einfachste Weg erschien ihm hier, eine Vertrauensfrage bewusst zu verlieren. Der Bundestag stimmte am 17. Dezember 1982 ab und sprach ihm wie gewünscht nicht das Vertrauen aus.
Es gab zwar Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgangs, das Bundesverfassungsgericht bestätigte Kohls Vorgehen aber letztlich. Die Bundestagswahl im März 1983 gewann die Union, die FDP wurde wie vorgesehen ihr Koalitionspartner.

Krieg und Vertrauen
Nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA, einem der engsten Verbündeten Deutschlands, die Unterstützung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu. Außerdem rief auch die NATO den Bündnisfall aus, weswegen sich die Bundeswehr am geplanten Einsatz in Afghanistan beteiligen musste. Ein Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Territoriums bedarf allerdings der Zustimmung des Bundestages. Einige Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, zu diesem Zeitpunkt an der Regierung beteiligt, kündigten schnell an, einem solchen nicht zustimmen zu wollen.
Deshalb entschied sich Schröder, die Entscheidung über einen Bundeswehreinsatz mit einer Vertrauensfrage zu verknüpfen. Der Sozialdemokrat argumentierte, dass nicht nur eine Mehrheit im Parlament für einen Bundeswehreinsatz wichtig sei, welche er mit Stimmen der Union und der FDP sowieso gehabt hätte. Vielmehr bräuchte es diese Stabilität auch in der regierenden Koalition. Am 16. November 2001 stellte er schließlich diesen sogenannten verbundenen Vertrauensantrag, den CDU/CSU und FDP nun doch ablehnten. Die Abgeordneten der Grünen, die zuvor angekündigten hatten, gegen einen Einsatz zu sein, sprachen jetzt aber zur Hälfte dem Kanzler das Vertrauen aus. Dies verschaffte Schröder dann doch die notwendige Mehrheit.

Paul Morse, gemeinfrei
Einmal ist keinmal
Möglicherweise beflügelt von diesem gelungenen Coup, versuchte es Gerhard Schröder dann wenige Jahre später nochmal: Nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und dem Ende der letzten rot-grünen Landesregierung, kündigte er an, auf Neuwahlen hinzuarbeiten. Er orientierte sich dabei an Kohls Vorgehen von 1982 und argumentierte, seine Regierung verfüge nicht mehr über ausreichend Handlungsfähigkeit. Dies sei auch wegen SPD-internen Streitigkeiten um die Agenda 2010 der Fall.
Tatsächlich sprach der Bundestag dem Kanzler nicht das Vertrauen aus und Bundespräsident Horst Köhler löste im Juli 2005 das Parlament auf. Auch dieses Mal gab es Diskussionen um die Verfassungsmäßigkeit und auch hier bestätigte das Bundesverfassungsgericht den Einklang mit dem Grundgesetz. Die anschließende Wahl am 18. September verlor Schröder dann aber gegen die Union, wenn auch nur knapp. Trotzdem musste er seinen Sessel räumen und Platz machen für seine Nachfolgerin Angela Merkel.
Die erste deutsche Bundeskanzlerin kam wiederum völlig ohne Vertrauensfrage aus, was – wie eingangs beschrieben – Olaf Scholz nicht gelang. Auch er wollte das Vertrauen entzogen bekommen. Ob sein Plan mit Blick auf das wenige Tage alte Wahlergebnis aufgegangen ist, darf jede:r selbst entscheiden …
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