Demokratiegeschichten

Helmtrud von Hagen über ihren Vater und ihr Leben als Kind des 20.Juli

Albrecht von Hagen war ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und ein wesentlicher Mitverschwörer des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Das missratene Attentat führte zur Verhaftung und Hinrichtung der Beteiligten. Seine Tochter, Helmtrud von Hagen, damals 8 Jahre alt, erlebte die Folgen des Attentats in Form von „Sippenhaft“, die vorsah nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch deren Familien zu bestrafen. Helmtrud und ihr Bruder Albrecht wurden ohne das Wissen ihrer Familie in einem Kinderheim in Bad Sachsa entführt, wo sie unter strenger Disziplin lebten.

Im Interview spricht Helmtrud von Hagen über ihren Vater, die Zeit in Bad Sachsa und ihre Auseinandersetzung mit ihrem familiären Erbe.

Das Interview führte Juliania Bumazhnova

Welche Erinnerungen haben Sie an ihren Vater? 

Ich bin 1935 geboren und mein Vater wurde 1939 als Reserveoffizier eingezogen. Von da ab habe ich ihn fast nicht gesehen, daher kenne ich ihn nur aus Schilderungen.  

Wie schilderten ihn die Menschen, die ihn kannten? 

In den Memoiren meiner Mutter hatte ich gelesen, dass er „der kleine Lord“ genannt wurde. Die Brüder machten Unfug und „der kleine Lord“ glich aus und vermittelte. Seine Brüder sind alle Landwirte geworden. Er weigerte sich als einziger diesen Weg einzuschlagen, stattdessen entschied er sich für ein Jurastudium in Heidelberg.  

Wusste die Familie etwas über die Beteiligung ihres Vaters am Widerstand?

Albrecht von Hagen

Mein Vater war einer der wenigen, die geschwiegen haben wie ein Grab. Er hat meine Mutter nicht eingeweiht, und das hat sich ausgezahlt. Nach nur drei Monaten Haft wurde meine Mutter nach dem Attentat freigelassen.  

Seine Eltern gehörten zu einer Generation von Untertanen, die nicht gelernt hatten, selbstständig zu denken und zu kritisieren. Im Kaiserreich waren sie auf Vertrauen, Gehorsam und Unterordnung erzogen worden. Deshalb waren sie ein gefundenes Fressen für einen Hitler und seine Ideen. Sie waren Nationalsozialisten und Parteimitglieder. Mein Vater hielt seine Beteiligung am Widerstand vor ihnen geheim.

Woher nahm Ihr Vater die Kraft, kritisch zu denken, wo er doch aus einem Umfeld stammte, in dem das nicht üblich war?

Das Jurastudium spielt dabei sicher eine wichtige Rolle. Es lehrt, nach Argumenten zu suchen und sich nicht einfach unterzuordnen. Als Jurist ist man darauf trainiert, genau hinzuschauen und das Recht präzise anzuwenden.

Wie haben Ihre Eltern und Großeltern auf die Nachricht vom Attentat reagiert?  

Am 20. Juli berichtete Adolf Hitler in einer Rundfunkansprache über das Attentat und verkündete: „Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen. […]
Ich selbst bin völlig unverletzt. “.  Diese Nachricht hörten meine Großeltern im Beisein meiner Mutter. Daraufhin versammelten meine Großeltern das ganze Dorf vor dem Haus, um Gott für das Überleben des Führers zu danken.

Mein Bruder war damals zum ersten Mal in einem Hitlerjugendlager und kam tief beeindruckt und begeistert zurück, ohne zu wissen, dass sein eigener Vater am Attentat auf den Führer beteiligt gewesen war. Daher war er in Bad Sachsa unbeschwert und vergnügt.

Das Kinderheim in Bad Sachsa

Was waren Ihre Erfahrungen in Bad Sachsa? 

Grundsätzlich wurde die sogenannte „Sippenhaft“ angeordnet, was nichts anderes bedeutete als die Ausrottung der Familien von „Verrätern“. Dann stellte man jedoch fest: „Mensch, da ist ja so viel arisches Blut. Das wollen wir doch gerade züchten, deshalb ist es ja dämlich, wenn wir diese Kinder umbringen. Wir werden sie umerziehen und in linientreue Familien geben.“ 

Über Nacht wurden die Erwachsenen von der Gestapo abgeholt. Am nächsten Morgen war das Haus leer. Ich blieb allein mit einer alten Tante. Eine Woche später wurden mein Bruder und ich von der Gestapo abgeholt mit dem Versprechen, wir würden unsere Mutter besuchen. Stattdessen wurden wir in das Kinderheim in Bad Sachsa gebracht.

Helmtrud von Hagen und Ihr Bruder Albrecht von Hagen

In Bad Sachsa habe ich drei Monate nur geheult. Ich war sehr unbeliebt in dem Haus, dem ich zugeteilt war, denn ich störte durch die Heulerei und das verheulte Gesicht. Die Verwaltung war streng und forderte Disziplin. Ich war jedoch nicht in der Lage, diese Disziplin aufzubringen, weil ich so tieftraurig war. 

Auf welche Weise haben Sie vom Tod Ihres Vaters erfahren? 

Am 8. August 1944, als meine Mutter in Haft war, betrat eine Aufseherin ihre Zelle und fragte: „Sind Sie nicht die Frau von Albrecht von Hagen?“ Meine Mutter sprang auf, in der Hoffnung, eine Nachricht von ihm zu erhalten. Da sagte die Wärterin gehässig zu ihr: „Das wissen Sie doch, der ist gerade hingerichtet worden.“.

Nach drei Monaten wurden meine Mutter und meine Großeltern entlassen und merkten dann entsetzt, dass die Kinder entführt waren. Ein großer Schock. Wir wurden einige Wochen später aus Bad Sachsa wieder zurückgebracht. An einer Bahnstation wurden wir von meiner Mutter abgeholt. Sie erzählte uns, dass unser Vater am Attentat beteiligt gewesen ist. Mein Bruder begriff erst in dem Moment, was tatsächlich geschehen war. Ich hatte als kleines Mädchen nicht verstanden, was „Tod“ heißt. Mich hat das nicht so tangiert, weil ich meinen Vater sehr wenig gesehen hatte. Erst später erlebte ich, was es heißt, keinen Vater mehr zu haben.

Wie reagierte Ihre Umgebung auf Ihre Familie als Angehörige von einem Hitler-Attentäter? 

Bis 1954 gehörten mein Bruder und ich zu den „Verräterkindern“. Es herrschte uns gegenüber große Ablehnung und wir hatten keine Möglichkeit, offen mit anderen Menschen zu sprechen.

Welche Wege haben Sie und Ihre Familie gefunden mit der belastenden Vergangenheit umzugehen? 

Helmtrud von Hagen heute

Meine Mutter hatte erst mit 83 angefangen über die Ereignisse, die damals passiert sind, zu schreiben. Das war eine Generation, die keine Psychologen kannte. Sie haben verdrängt. Erst nach dem Tod meiner Mutter begann ich, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Da bin ich 50 Jahre alt gewesen. Die Gestalttherapie hat mir dabei sehr geholfen.

Das Attentat auf Hitler am 20. Juli war leider erfolglos. Auch heute gibt es zahlreiche Anstrengungen, Rechtsextremismus vorzubeugen. Trotzdem wird das rechte Gedankengut zunehmend populärer, die erhofften Resultate bleiben aus.

Was ist der Sinn von Engagement und Widerstand, wenn sie nicht die gewünschten Resultate erzielen? 

Es geht für mich nicht um Resultate, sondern um die innere Einstellung. 

Ich empfinde den 20. Juli jedoch nicht als erfolglos, sondern als Fundament für die Einrichtung der Demokratie in Deutschland. Ohne dieses Attentat, einen Versuch die Ehre Deutschlands zu retten, würde Deutschland heute ganz anders leben. Deutschland wäre ein besiegtes Land geblieben mit bedingungsloser Kapitulation unter dem Diktat der Westmächte und Russlands. Dadurch, dass die Westmächte den Widerstand erkannten und akzeptierten, entstand der Marshallplan, entstand Hilfe und man kam auf den Gedanken, dass es gut wäre, Deutschland im westlichen Sinn aufzurichten. Das schreibe ich dem deutschen Widerstand ins Buch.

Haben Sie Anregungen, wie wir uns heute am besten selbst reflektieren können und sicherstellen, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen?

Es ist wichtig, anderen zuzuhören und die Situation zunächst zu erfassen, anstatt sofort zu urteilen und zu denken: „Ich habe recht.“ Häufig neigen wir dazu, schnell zu reagieren, um unser Recht zu behaupten. 

Für mich persönlich hat Meditation eine große Rolle gespielt. Seit 1995 praktiziere ich sie und habe festgestellt, dass sie mir eine innere Gelassenheit schenkt. Diese Gelassenheit hilft mir Ereignisse differenzierter wahrnehmen, ohne sofort defensiv zu reagieren oder mich unnötig zu verteidigen. Meditation hilft, sich seine eigenen Muster bewusst zu machen und einzugreifen, um sich dann zu ändern. 

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