Demokratiegeschichten

Vom Protest zur Kommunalpolitik – Die Gründungsgeschichte des Ortsverbandes der GRÜNEN in Telgte (II)

Jugendproteste und ihre Bedeutung für die Gründungsgeschichte der Grünen in Telgte

Es sind im Wesentlichen Telgter Jugendliche, es ist eine neue Generation, deren politische Aktivitäten zur erfolgreichen Gründung des Ortsverbandes der Grünen führt. Dabei sind zwei Initiativen aus den Neuen Sozialen Bewegungen von herausragender Bedeutung. Erstens, die örtliche Gruppierung der „Neuen Sozialen Bewegung in der Provinz“[iii], der Jugendzentrumsbewegung, und zweitens die örtliche Gruppierung der Friedensbewegung, der Arbeitskreis „Frieden“ des Stadtjugendrings, der später zur „Friedensinitiative Telgte“ erweitert wird.

Die Jugendzentrumsbewegung in Telgte

Schon Anfang der 1970er Jahre beginnen Jugendliche in Telgte, sich kämpferisch für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum einzusetzen. Sie sind dadurch Teil einer bundesweiten Bewegung, die ihren Höhepunkt Mitte der 1970er Jahre erreicht. Mit Slogans wie beispielsweise „Was wir wollen: Freizeit ohne Kontrollen“ fordern Jugendliche in mehr als 1000 Orten der Bundesrepublik autonome Jugendzentren, eigene Räume zur Freizeitgestaltung ohne Kontrolle durch die Erwachsenengeneration oder Konsumzwang.[iv]

Auch die Telgter Jugendlichen fordern Räume von der Stadt, in denen eine Jugendarbeit stattfinden kann, die für alle Jugendlichen offen ist, nicht nur für die in Vereinen und Verbänden organisierten. Ihr Einsatz und Protest dauert viele Jahre und umfasst dabei Generationen von Jugendlichen, die sich engagieren und dabei politisieren. Sie erleben nicht eingelöste Versprechen, Hinhaltetaktiken und das Misstrauen der CDU-Ratsfraktion und der CDU-nahen Verwaltung. Dabei kommen viele der Aktiven aus den Kreisen der Telgter Pfadfinder, die aus dem katholisch-bürgerlichen Milieu stammen und mit ihrem sozialen Engagement viel Anerkennung in der Bürgerschaft Telgtes erhalten. Aber auch sie fangen an, sich zu politisieren und die starren konservativen Strukturen in politischen und kirchlichen Kreisen in Frage zu stellen.

Am Anfang steht der „Arbeitskreis Jugendzentrum“, der sich mit überörtlichen Initiativen vernetzt und sich als Teil einer bundesweiten Bewegung sieht. Auch wenn spätere Gruppierungen sich nicht mehr so sehr als Bewegung begreifen, erwerben sie wichtige Fähigkeiten für die weitere politische Arbeit in einer Demokratie, z.B. in Öffentlichkeitsarbeit, Gruppenorganisation, den Umgang mit Presseorganen und die Organisation von Veranstaltungen. Sie lernen dabei aber auch die Grenzen dessen kennen, was in einer Bürgerinitiative erreichbar ist und wo die Initiative den Rückhalt durch politische Gremien und die Stadtverwaltung braucht, um ihr Ziel zu erreichen. 

Die örtliche Friedensbewegung

Noch deutlicher ist der Beitrag des Arbeitskreises „Frieden“ des Stadtjugendrings bzw. die spätere „Friedensinitiative Telgte“ an der Gründung der Telgter Grünen. Der sehr aktive, entschlossene und hartnäckige Kern der Friedensbewegung in Telgte greift die Impulse und Argumente der bundesweiten Bewegung auf und vernetzt sich mit örtlichen und überörtlichen Bündnispartnern.

Flugblatt zur zweiten Friedenswoche; Programmteil hier nicht übernommen.
Quelle: Privatunterlagen Wolfgang Pieper.

Die jugendlichen Aktiven protestieren über Jahre gegen den NATO-Doppelbeschluss und die atomare Aufrüstung in Ost und West. Sie organisieren Friedenswochen, Mahnwachen und beteiligen sich an Aktionen des gewaltfreien Widerstandes. Die Mitglieder der Gruppe finden damit in der Telgter Stadtgesellschaft wenig Entgegenkommen. Sie suchen die Diskussion mit den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, stoßen aber auf Vermeidung und Ablehnung. Vermutlich betrachtet das größtenteils sehr konservative Bürgertum Telgtes ihre gesellschaftskritischen Haltungen als zu „links“, obwohl sie ihre parteipolitische Neutralität stets beteuern. Zwischen den in der Initiative engagierten Pfadfinder:innen – denen der Einsatz für den Frieden in der Welt ja nicht neu ist – und der katholischen Kirche vor Ort kommt es zum Konflikt und schließlich zum Bruch.

Flugblatt zur Ankündigung eines Hungerstreiks in Telgte.
Quelle: Privatunterlagen Wolfgang Pieper.

Auch in dieser Initiative finden wichtige Lernprozesse zur politischen Arbeit statt und auch hier steht am Ende die Erkenntnis, dass der Gang in die kommunalpolitischen Institutionen wichtig ist, um auch in Telgte einen Wertewandel voranzutreiben und die Ziele der Neuen Sozialen Bewegungen in die Politik der Stadt zu integrieren. Viele der Aktiven, auch viele aus der Pfadfinderschaft kommende Telgter Jugendliche unterstützen gleich am Anfang den neu gegründeten Ortsverband der Grünen in Telgte durch eine Kandidatur in der Kommunalwahl 1984. Naturverbundenheit, soziales Engagement und der respektvolle Umgang in einer Gruppe sind dabei sicher wichtige Attribute, die sie mitbringen.

Entwicklung des Ortsverbandes

Die Kandidat:innen des Ortsverbandes der Grünen bei der Kommunalwahl 1984 sind größtenteils sehr jung. Von den 16 auf der Reserveliste des Wahlprogramms Aufgeführten sind elf Kandidat:innen 18 bis 23 Jahre alte Schüler:innen, Student:innen oder Auszubildende. Drei weitere sind zudem unter 30 Jahre alt. Umso erstaunlicher ist die Resonanz, auf die sie in der Wählerschaft Telgtes stoßen. Sie erreichen 11,28 % der Wählerstimmen und ziehen mit immerhin vier Sitzen in den 41-köpfigen Stadtrat ein. Fünf Jahre später sind es 12,9 % und fünf Sitze sowie 1994 schon 13,4 % und sechs Sitze. Eine bürgerliche und zumeist jugendliche Protestbewegung zieht ins Rathaus ein und beginnt mit Beharrlichkeit und viel politischem Geschick einen langen Kampf sowohl gegen Obrigkeitsdenken als auch verkrustete konservative Strukturen.

Damit setzt sie neue Schwerpunkte in der Kommunalpolitik der Stadt. Ihr Einsatz für größere Transparenz bei politischen Entscheidungen und Offenheit für mehr Mitwirkung durch die Bevölkerung zahlt sich aus. Der Ortsverband der Grünen in Telgte, heute „Bündnis 90/Die Grünen“, stellt seit 2010 den Bürgermeister. Und seit der Kommunalwahl 2020 mit 41,62 Prozent die stärkste Fraktion im Rat der Stadt Telgte. Die Zuversicht des Ortsverbandes im Gründungsjahr 1983 erscheint im Rückblick überaus gerechtfertigt.


Informationen zur Autorin: Christine Crne, 67 Jahre, pensionierte Englisch- und Wirtschaftslehrelehrerin an einem Münsteraner Berufskolleg. Studium im Alter seit Wintersemester 2021/22. 

Der Beitrag fasst Aussagen des Aufsatzes der Verfasserin mit gleichlautender Überschrift zusammen. Die Arbeit wurde im Rahmen des Studiums im Alter an der Universität Münster verfasst. Sie wurde im Sommer 2024 im Internet als pdf-Datei auf der offiziellen Publikationsplattform der Universität Münster veröffentlicht.


Literaturhinweise

[iii]       Templin, David: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er
          Jahre, Göttingen 2015, S. 614.

[iv]       Templin, David: Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er
          Jahre, Göttingen 2015, S. 9.    

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