Demokratiegeschichten

Partei und Protestbewegung II

Die SPD Münster und die Friedensinitiative Münster (FIM) im Konflikt um den Antrag, die Stadt atomwaffenfrei zu erklären (1983)

Die Position der SPD-Ratsfraktion

Wahrscheinlich im Sommer 1983 äußert sich der damalige stellvertretende Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion Theo Sträßer zur atomwaffenfreien Zone:

„Mit der Friedensbewegung teilen wir die Einschätzung, daß nur breite, demokratische Meinungsbildung von unten eine Situation schaffen kann, in der die atomare Hochrüstung nicht mehr fortgesetzt werden kann. Beratungen vor Ort über ‚atomwaffenfreie Zonen‘ verändern noch kein Verteidigungskonzept, aber wecken Betroffenheit und Problembewußtsein.

Diese besondere Betroffenheit und Gefährdung bestärken die SPD-Fraktion in der Absicht, die wachsenden Sorgen der Bürger auch im Rat der Stadt zur Sprache zu bringen mit dem Ziel, daß das Stadtparlament seine begrenzten Zuständigkeiten ausschöpft und – unter anderem – beschließt, von sich aus keine Maßnahmen zu unterstützen, die der Stationierung oder Lagerung von ABC-Waffen im Stadtgebiet dienen.

Wir sind uns bewußt, daß Ratsdebatten oder sogar -beschlüsse die politische Arbeit der Friedensbewegung nicht ersetzen können.“

Das heißt: Er sieht die Notwendigkeit, „Beratungen vor Ort über ‚atomwaffenfreie Zonen‘“ durchzuführen, um „Betroffenheit und Problembewußtsein“ zu wecken und dafür die „begrenzten Zuständigkeiten“ des Rates auszunutzen. Damit signalisiert die SPD – Ratsfraktion grundsätzlich ihre Bereitschaft zur Kooperation mit der Friedensinitiative Münster (FIM). Allerdings spricht der stellvertretende Fraktionsvorsitzende nicht von einem Verbot. Sondern davon, dass der Rat beschließen soll, „von sich aus keine Maßnahmen zu unterstützen, die der Stationierung oder Lagerung von ABC-Waffen im Stadtgebiet dienen“. Eine nicht unerhebliche Nuancierung.  Am 2. November bringt die SPD einen eigenen Antrag ein, während die Grünen den ‚Bürgerantrag‘ zur Abstimmung stellen.

Die Ergebnisse der Ratssitzung

  • Die Ratsmehrheit von CDU und FDP legt einen Antrag mit dem Ziel vor, als Beitrag zum Frieden eine Partnerschaft zwischen Münster und einer Stadt in der DDR zu begründen.
  • Der SPD-Antrag mit dem Titel „Beitrag der Stadt Münster zur Friedenssicherung“ enthält die Forderungen, die Atomwaffen zu ächten und die Möglichkeiten des Rates zu nutzen, um zu verhindern, dass auf städtischem Boden Atomwaffen stationiert bleiben oder werden, und – wie auch der Antrag von CDU und FDP – eine Partnerschaft mit einer DDR-Stadt einzugehen.
  • Die grün-alternative Fraktion hat den ‚Bürgerantrag‘ der FIM übernommen und verlangt, Münster zur atomwaffenfreien Zone zu erklären und Bundestag und Bundesregierung aufzufordern, den NATO-Doppelbeschluss abzulehnen.

Die Ratsmehrheit stimmt für die Absetzung der Anträge von SPD und GAL. Und zwar mit der Begründung, sie fielen wegen ihrer allgemeinpolitischen Aussagen nicht in die städtische Zuständigkeit. Damit folgt sie einer Linie, die sich als Muster in der Auseinandersetzung um friedenspolitische Entschließungen in kommunalen Entscheidungsgremien klassifizieren lässt:

„Indem vor allem Vertreter der konservativen Parteien eine Behandlung friedenspolitischer Anträge in den Städten und Gemeinden als kommunalrechtlich nicht zulässig, ja sogar verfassungswidrig einschätzten, waren entsprechende Anträge bereits in formaler Hinsicht hochgradig umstritten.

Die konservativ-liberale Ratsmehrheit setzt ihren Antrag, Begründung einer DDR-Städtepartnerschaft, durch. Die SPD-Fraktion lehnt ab, sich an den Beratungen darüber zu beteiligen.

Das  Verhalten der SPD-Ratsfraktion

Die SPD übernimmt – anders als die Grünen – den ‚Bürgerantrag‘ nicht. Sondern stellt einen eigenen und der enthält einen Punkt, der sich mit der zentralen Forderung von CDU und FDP deckt. Offensichtlich steckt dahinter eine taktische Überlegung, die aufgrund der damaligen Konstellation im Rat mehr als naheliegt. Soll der Antrag eine Chance haben, eine Mehrheit zu finden, müssen ihn sieben Ratsmitglieder aus dem bürgerlichen Lager unterstützen.  Die Übernahme der Forderung nach einer Städtepartnerschaft ist als Brücke gedacht. Diese soll den Weg aus der konservativen und der liberalen Fraktion zum SPD-Antrag erleichtern. Und damit eine Aussage zum Thema Atomwaffen mehrheitsfähig machen.

Aber die SPD scheitert an der Geschlossenheit der Mehrheitsfraktionen, ebenso wie die Grünen und die FIM mit dem ‚Bürgerantrag‘.

Der Konflikt: Worin Möglichkeiten und Grenzen konventioneller und unkonventioneller Partizipation liegen

Die Unterscheidung

In Teilen der Politikwissenschaft gilt Protest als Form unkonventioneller Beteiligung in Abgrenzung zur konventionellen Partizipation.

 Konventionell ist, sich an Wahlen zu beteiligen, in Parteien mitzuarbeiten oder sich zur Wahl aufstellen zu lassen.

Unkonventionell ist Beteiligung, durch die Bürger:innen sich selbstorganisiert und unmittelbar öffentlich äußern und damit Konflikte sichtbar machen.

Die FIM ist ein Faktor der unkonventionellen Partizipation, die SPD fällt in den Bereich der konventionellen Beteiligung.

Wo beide zusammenarbeiten, liegt eine Mischform vor.

Stärken der Mischform

Die FIM will mit ihrer Forderung, Münster zur ‚Atomwaffenfreien Zone‘ zu erklären, zielgerichtet aktivieren. Die Stadtteilinitiativen spielen dabei eine zentrale Rolle, indem ihre Mitglieder in Vierteln Unterschriften für den ‚Bürgerantrag‘ sammeln und atomwaffenfreie Zonen, zumeist Straßen, durch Abstimmungen schaffen. Von unten, das ist die Absicht, soll Druck auf die Mitlieder des Rates ausgeübt werden. Darin liegt die Stärke von FIM und Stadtteilinitiativen. Sie können uneingeschränkt auf Symbolpolitik setzen und für sie Menschen mobilisieren.

Die FIM ist dabei aber auf Mitspieler:innen der konventionellen Partizipation angewiesen, soll der ‚Bürgerantrag‘ im Rat auf die Tagesordnung gesetzt werden und Chancen haben, eine Mehrheit zu finden.

Die SPD findet in der FIM eine Partnerin, die entscheidend zur Mobilisierung für die gemeinsamen Ziele beitragen und dabei auf motivierende Symbolpolitik setzen kann. Die Partei kann von der damit verbundenen Verbreiterung der politischen Mobilisierung profitieren, zumindest ist das die Intention. Der gemeinsame Vorteil liegt darin, mehr Menschen für die Teilhabe an ihrem demokratischen Recht, Kritik an den Entscheidungen politischer Eliten zu üben, zu gewinnen.

Grenzen der Mischform

Das Problem liegt darin, dass die konventionelle Partizipation anderen Gesetzen folgt als die unkonventionelle. Sie findet dort statt, wo tatsächlich Machtfragen gestellt werden, weil die gefällten Entscheidungen reale Folgen haben. Bei ihr gibt es keine Eins zu Eins – Umsetzung von Zielen der Protagonisten unkonventioneller Partizipation und den konventionell Partizipierenden. Jedenfalls nicht dort, wo – wie in Münster – eine konservativ – liberale Mehrheit in der Lage ist, das, was FIM und SPD für richtig halten, von vornherein auszuhebeln. Das verlangt mit ungewissem Ausgang taktisches Verhalten, das den Vertreter:innen der unkonventionellen Partizipation missfallen mag. Aber zumindest – in diesem Fall der SPD-Fraktion – alternativlos erscheint, soll es überhaupt eine Chance geben, einen sicherheitspolitischen Antrag durchzusetzen.

Die grundsätzliche Stärke der SPD liegt darin, dass sie als Fraktion im Rat an dem Ort agiert, der tatsächlich Entscheidungen treffen kann. Ihre – münsterspezifische – Schwäche liegt darin, dass sie – auch wenn die Grünen sich anschlössen- nicht über die notwenige Mehrheit verfügt, den Antrag zu beschließen.

Die Folgen der politischen Arbeit in der Mischform

In jedem Fall aber sind Vorteil und Problem gleichermaßen Lehren für die Protestkultur in einem demokratischen Staat und Beispiele für die Erweiterung demokratischer Teilhabe auch in der Münsteraner Gesellschaft.

Die Kooperation zwischen FIM und SPD ist schließlich ein Beleg für die Aussage des Historikers Philipp Gassert, ein Spezifikum der Friedensbewegung sei „eine Ausweitung des milieuspezifischen Resonanzbodens“ in den Protestkulturen.

„(,,,) wir haben es in quantitativer und qualitativer Hinsicht mit einer deutlichen Verbreiterung der aktiven Protestpartizipation zu tun.“

Gassert vergleicht dabei die Friedensbewegung mit zwei vorangegangenen Protesten, dem „Kampf gegen den Atomtod“ 1957/58 und der 68er- Bewegung. Den ersten Protest klassifiziert er als Parteiprojekt der SPD und der organisierten Arbeiterschaft und den zweiten als wesentlich von der akademischen Jugend getragen. Im Unterschied dazu „übergriffen Protestkulturen (der Friedensbewegung) nun Milieus, Klassen und Generationen. Es lässt sich somit eine Demokratisierung von Protest (…) beobachten“. Und damit verbunden eine veränderte politische und schließlich nachhaltig wirkende  Kommunikation im Protest.


Zum Werk und Autor

Klaus-Dieter Franke war Lehrer für Deutsch und Geschichte.

Dieser Beitrag entstand im Seminar Forschendes Lernen zum Thema „Protestgeschichte(n) in Westfalen im 20. Jahrhundert“ an der Universität Münster. Eine Vollversion des Aufsatzes findet sich zudem hier auf dem Publikationsportal der Universität Münster.

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