Demokratiegeschichten

Die Konstitution, die keine sein will – Israels Verfassungsordnung (II)

Teil I dieses Beitrags finden Sie hier.

An der Spitze Israels steht der Staatspräsident. Seine Aufgabe ist die Repräsentation des Staates Israel nach außen. Gleichzeitig symbolisiert sein Amt die Einheit des Staates über parteipolitische Grenzen hinweg. Es ist die Knesset, die den Präsidenten für sieben Jahre wählt. Eine Wiederwahl ist nicht möglich.

Das Parlament, um das sich alles dreht

Das israelische Parlament besteht aus 120 Abgeordneten. Das israelische Volk wählt sie planmäßig für vier Jahre. Dabei stimmen die Wähler:innen für festgelegte Parteilisten, deren Reihenfolge sie nicht bestimmen können. Wichtigste Aufgabe der Knesset, neben der Wahl des Präsidenten, ist die Verabschiedung von Gesetzen. Sie bildet zweifellos das Zentrum der Verfassungsordnung Israels.

Die Exekutive besteht aus dem Ministerpräsidenten und seinen Ministern. Das Kabinett ist maßgeblich vom Vertrauen der Knesset abhängig. Eine neue Regierung bildet sich nach Beauftragung durch den Staatspräsidenten. Dies geschah bisher immer auf Grundlage einer Parteienkoalition, da keine Partei jemals die absolute Mehrheit in der Knesset erringen konnte.

Das Gebäude der Knesset in Jerusalem. Quelle: Joshua Paquin, CC BY 2.0

Nicht zuletzt bestimmt die Knesset den Staatskontrolleur (Ombudsmann). Sie wählt ihn auf fünf Jahre und entsprechend ist auch er nur ihr gegenüber verantwortlich. Von der Regierung arbeitet er vollkommen unabhängig. Der Staatskontrolleur prüft die Finanzen der öffentlichen Verwaltung und hat ein Auge auf beispielsweise Legalität, Wirtschaftlichkeit und Moral staatlicher Behörden und Unternehmen. Seit 1971 fungiert er außerdem als Bürgerbeauftragter bzw. Ombudsmann. Wenn Bürger:innen eine Beschwerde gegen den Staat vorbringen möchten, wenden sie sich an ihn.

Schritt für Schritt Richtung Konstitution

Die israelische Judikative ist aufgeteilt in säkulare und religiöse Gerichte. An der Spitze steht das Oberste Gericht in Jerusalem. Es dient als Quasi-Verfassungsgericht, kann also entscheiden, ob ein verabschiedetes Gesetz mit den Grundgesetzen des Staates Israel übereinstimmt. Aufgrund der starken Stellung der Knesset musste sich das Oberste Gericht diese Stellung aber erst erkämpfen und bis heute liegt hier großes Konfliktpotential.

Der gegenwärtige Staatspräsident Israels, Isaac Herzog. Quelle: Government Press Office of Israel, gemeinfrei

So verabschiedete im Konstitutionalisierungs-prozess der 1990er die Knesset zum ersten Mal Grundgesetze, die sich explizit mit Menschen- und subjektiven Rechten der Israelis beschäftigten. Dies löste im Obersten Gericht eine Diskussion darüber aus, ob alle Grundgesetze normativen Rang gegenüber anderen Gesetzen hätten.

Die obersten Richter entschieden sich letztlich dafür, dass dies in der Tat der Fall sei. Entsprechend müssten die Grundgesetze Vorrang vor anderen Gesetzen haben. Dies war nicht weniger als eine „Verfassungsrevolution“, da es die Befugnisse der Knesset (verhältnismäßig) stark beschnitt. Dies löste heftige Diskussionen in Gesellschaft und Politik aus. Gerade das rechtskonservative Lager forderte bereits damals, die Zuständigkeiten des Gerichts einzuschränken.  

Populismus und Demokratie

Das Wappen des Staates Israels. Quelle: gemeinfrei

Wie in vielen Ländern der Welt ist auch in Israel seit ein paar Jahren ein zunehmender Populismus und eine Schwächung des Vertrauens in die Demokratie wahrnehmbar. Populist:innen (inner- und außerhalb der Regierung) delegitimieren die Gerichte grundsätzlich, lehnen Einschränkungen der Regierungsmacht vehement ab, setzen sich für eine stärkere Kontrolle von beispielsweise der Presse oder von NGOs ein. Oft begründen sie dies damit, diese seien „Feinde des Volkes“.

In Israel ist die Demokratie hier noch stärker unter Druck, da es durch das Nichtvorhandensein einer stringenten Verfassung wenige bis keine Kontrollmechanismen gibt. Die Abwehr antidemokratischer Strömungen ist hier umso schwerer. Und dabei gibt es zahlreiche drängende Herausforderungen, mit denen sich die israelische Politik und Gesellschaft auseinandersetzen müssten; nicht zuletzt der israelisch-palästinensische Konflikt oder die Frage nach der Beibehaltung der jüdischen Identität des Staates Israel.

Mehr als nur eine Reform

Das rechtskonservative Lager sah angesichts dieser Herausforderungen schon länger die Lösung darin, der Regierung noch weniger Beschränkungen aufzuerlegen als bisher. In diesem Zusammenhang ist die Justizreform von 2023 zu verstehen. Sie sah unter anderem folgende Änderungen vor:

  • Durch die „Außerkraftsetzungsklausel“ soll eine einfache Knesset-Mehrheit Gesetze verabschieden können, die zuvor für verfassungswidrig erklärt worden waren.
  • Der Oberste Gerichtshof soll sich künftig nicht mehr mit Grundgesetzänderungen befassen.
  • Außerdem soll er Regierungsentscheidungen nicht mehr auf ihre „Verhältnismäßigkeit“ überprüfen können.

Diese Reformen hätten die Rolle der Knesset und damit der auf sie gestützten Regierung enorm gestärkt. Die Befürworter begründeten dies damit, dass sie ja auf gewählten Mehrheiten basiere, es hierbei also durchaus demokratisch zugehe.

Das Oberste Gericht in Jerusalem. Quelle: Almog, gemeinfrei

Ende gut, alles gut?

Was sie dabei aber vergaßen: Demokratie bedeutet eben nicht nur Herrschaft der Mehrheit, sondern in gleichem Maße Schutz von Minderheiten und von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit, Teilung der Gewalten und Bewahrung einer unabhängigen Justiz. Die israelische Demokratie stand im Sommer des vergangenen Jahres in der Tat kurz vor einer Katastrophe.

Letztlich kippte das Oberste Gericht entscheidende Aspekte der Justizreform am 1. Januar 2024. Aufgrund des seit dem 7. Oktober 2023 bis heute tobenden Krieges in Gaza äußerte sich die Regierung darüber zwar empört, aber akzeptierte (zunächst) die richterliche Entscheidung. Dass die Sache damit erledigt und die israelische Demokratie auf ewig gerettet ist, lässt sich aber wohl bezweifeln.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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