Demokratiegeschichten

Zementierung der präsidentiellen Macht – die Verfassung der Russischen Föderation

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 stürzte Russland in eine wirtschaftliche Krise, die den Großteil der russischen Bevölkerung hart traf. Nur einige wenige sollten am Ende der 1990er Jahre als (umso größere) Gewinner aus ihr hervorgehen. Nicht nur, aber auch aufgrund der wirtschaftlichen Not kam es zwischen dem Kongress der Volksdeputierten, dem höchsten gesetzgebenden und 1989 gewählten Organ der ehemaligen UdSSR, und dem russischen Präsident Boris Jelzin, dem ersten demokratisch gewählten Staatsoberhaupt in der russischen Geschichte, immer wieder zu Spannungen.

Diese Rivalität gipfelte schließlich darin, dass Jelzin per Dekret am 21. September 1993 den Kongress der Volksdeputierten auflöste, nachdem dieser seinen Entwurf einer Präsidialverfassung abgelehnt hatte. Außerdem kündigte er Neuwahlen und eine Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf für Dezember an.

Heiligt der Zweck die Mittel?

Daraufhin wies der Volksdeputiertenkongress Jelzins Dekret wenig überraschend zurück, vielmehr enthob er Jelzin seines Amtes und setzte eine Gegenregierung ein. Es kam tatsächlich auch zu öffentlichen Protesten gegen Jelzins Politik bis hin zu Straßenkämpfen in Moskau. Doch die Armee, in einer solchen Situation ein entscheidender Machtfaktor, blieb auf der Seite des Präsidenten.

Streitkräfte belagerten und bombardierten das Parlamentsgebäude, in dem sich die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses verbarrikadiert hatten. Diese flohen schließlich großteils, woraufhin Anfang Oktober der bewaffnete Widerstand gegen Jelzin zusammenbrach.

Das von Beschuss beschädigte Weiße Haus in Moskau, das Parlamentsgebäude, in dem sich die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses verbarrikadierten (4. Oktober 1993). Quelle: Bergmann, CC BY 3.0 DEED

Wie geplant nahm das russische Volk am 12. Dezember 1993 durch eine Volksabstimmung die Verfassung der Russischen Föderation an. Am 25. Dezember trat sie in Kraft und ersetzte damit die bisher geltende Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Die Aufgaben des Kongresses der Volksdeputierten übernahm nun das neue Zweikammerparlament, bestehend aus Föderationsrat und Duma.

Zum ersten Mal ein demokratisches Russland

Die neue Verfassung erklärte Russland zu einem demokratischen, rechtlichen und sozialen Staat und betonte die Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger:innen. Sie setzte das Prinzip der Gewaltenteilung um und alle russischen Regionen erhielten den Status gleichberechtigter Subjekte der Föderation. Sie alle werden in der Konstitution aufgelistet.

Das Dokument besteht aus einer Präambel und zwei großen Abschnitten: der erste Abschnitt (9 Kapitel) ist den Grundlagen des politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Systems gewidmet. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Stabilität der Verfassungsgesetze sowie Übergangsbestimmungen bei der Einführung der Verfassung.

Präsident Boris Jelzin im Mai 1997. Quelle: Kremlin.ru, CC BY 4.0 DEED

Die Regelungen zur Änderung der Verfassung finden sich in Kapitel 9 des ersten Abschnitts. Es beschreibt das Recht des Präsidenten, des Föderationsrats, der Staatsduma und der Regierung der Russischen Föderation, Vorschläge für Verfassungsänderungen vorzulegen. Änderbar sind aber nur die Bestimmungen in den Kapiteln 3 bis 8.

Notwendig ist dafür eine Zweidrittelmehrheit in der Duma, drei Fünftel der Föderationsratsstimmen und die Bestätigung durch Parlamente von mindestens zwei Dritteln der russischen Föderationssubjekte. Änderungen der Kapiteln 1, 2 und 9 sind nur in Form einer kompletten Neuerarbeitung der Verfassung möglich. Eine solche müsste dann wiederum das Volk durch eine Abstimmung bestätigen.

Doch trotz neuer demokratischer Verfassung blieben nach 1993 viele ehemaligen sowjetische Institutionen sowie in den meisten Fällen ihr komplettes Personal einfach unter neuem Namen bestehen. Russland als größter Nachfolgestaat reklamierte den entscheidenden Teil des sowjetischen Erbes für sich. Davon waren ein nicht unerheblicher Teil eben die alten Machtstrukturen.

Änderungen nach Gusto des Präsidenten

Für viele Russ:innen verband sich außerdem mit dem demokratischen System von Anfang an das Gefühl der wirtschaftlichen Not. So erhielt die neue Demokratie (demokratija) im Volksmund bald einen anderen Namen: dermokratija („Scheißkratie“). Nach Jelzins Abgang 1999 begann sein Nachfolger Wladimir Putin damit, den russischen Staat mit Hilfe von Verfassungsänderungen in seinem Sinne umzuformen:

  • 2008 wurde die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre und die der Abgeordneten der Duma von vier auf fünf Jahre verlängert sowie die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber der Duma fest verankert.
  • Sechs Jahre später, nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014, erklärte eine Verfassungsänderung die annektierte Halbinsel sowie die Stadt Sewastopol zu russischen Föderationssubjekten.
Unterzeichnung des Vertrages über den „Anschluss“ der Krim und der Stadt Sewastopol an die Russische Föderation (März 2014). Quelle: Kremlin.ru, CC BY 4.0 DEED
  • 2020 war das Jahr der meisten Änderungen. Putin ließ ein Paket mit insgesamt 170 Änderungen schnüren und durch eine (nicht zwingend notwendige) Volksbefragung bestätigen. Unter anderem wurde die bisherige Zählung der Amtszeiten Putins annulliert, wodurch er nun theoretisch bis 2036 Präsident bleiben kann. Außerdem legen die Veränderungen den Vorrang der russischen Verfassung vor dem Völkerrecht fest. Des Weiteren bestimmen sie, dass Präsidentschaftskandidaten die vorherigen 25 Jahre in Russland gelebt haben müssen und nie eine ausländische Aufenthaltserlaubnis, einen Erstwohnsitz im Ausland und eine ausländische Staatsbürgerschaft besessen haben dürfen. Die Verfassung bekennt sich seither explizit zu Gott und legt eine offizielle Sicht auf die Vergangenheit durch ein Verbot von „Geschichtsfälschungen“ fest.
  • Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 erklärten dann weitere Änderungen schließlich die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sowie die Oblasten Cherson und Saporischschja zu Föderationssubjekten.

Schlimmer als defekt

Lange beschrieben Expert:innen die Russische Föderation als eine defekte Demokratie. Es fanden zwar mehr oder weniger demokratische Wahlen statt, aber andere Grundlagen liberaler Demokratien wie Freiheitsrechte und Gewaltenkontrolle garantierten die staatlichen Institutionen nicht mehr. Mittlerweile wäre wohl auch dies eine zu wohlwollende Einschätzung. Präsident Putin regiert eindeutig autokratisch und benutzt die wenigen übrigen demokratischen Elemente nur zur Akklamation der eigenen Macht.

Momentan laufen die Diskussionen noch, ob Putin als Diktator oder „nur“ als extremer Autokrat zu bezeichnen ist. In jedem Fall ist die Russische Föderation aktuell ein lebender Beweis dafür, dass das Vorhandensein einer Verfassung keine Garantie für eine funktionierende Demokratie ist. Manchmal ist sie sogar Mittel zur Zementierung autokratischer Herrschaft.

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe „In guter Verfassung“. Mit ihr möchten wir verschiedene gegenwärtige und historische Verfassungen vorstellen und dabei zeigen, wie sie Staaten und Menschen beeinflusst haben – und von diesen beeinflusst wurden.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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