Seit nunmehr 40 Jahren gibt es die Kirchenasylbewegung in Deutschland. Auslöser dafür war der Suizid eines türkischen Geflüchteten im Sommer 1983. Was Kirchenasyl bedeutet und wie es heute praktiziert wird …
Was ist Kirchenasyl?
Kirche gewährt Schutz. Die Idee ist alt. Neu praktiziert wird sie in Deutschland verstärkt seit dem Jahr 1983. In den letzten 40 Jahren leben in Deutschland jährlich mehrere hundert bis tausende Menschen im sogenannten Kirchenasyl. Stand Oktober 2023 sind in Deutschland aktuell 452 laufende Kirchenasyle bekannt. Dabei handelt es sich stets nur um einen befristeten Aufenthalt von mehreren Wochen oder Monaten. Anfragende sind Geflüchtete ohne Chancen auf ein Asylverfahren oder mit bereits abgelehntem Asylantrag. Um einen Härtefallantrag zu stellen, die Abschiebung aufzuheben oder zumindest aufschieben zu können, benötigen sie Zeit und eine sichere Unterkunft.
Im Sinne christlicher, moralischer Werte sehen sich viele Gemeinden dazu angehalten, diesen Schutz zu bieten. Sie stellen Wohnraum zur Verfügung und melden die Unterbringung dem Staat. Aber dabei bleibt es nicht: Neben den Räumlichkeiten fordert der Staat für die Duldung des befristeten Asyls jede Menge Organisation und Dokumentation. Auch für die weiterführende Versorgung der oftmals mittellosen Asylsuchenden sind Geld, Rat und Tat notwendig. Schlussendlich ist es Aufgabe der Kirchengemeinde, für die Schutzbedürftigen Härtefallanträge zu stellen, sie zu Behördengängen zu begleiten uvm.
Wie es begann: Der Fall Cemal Kemal Atun
Wie ist es dazu gekommen, dass sich so viele Menschen in Deutschland ehrenamtlich engagieren und diesen großen Aufwand stemmen möchten? Angefangen hat die Bewegung Kirchenasyl in Deutschland mit einem tragischen Fall im Sommer 1983. Am zweiten Tag der Gerichtsverhandlung über seine drohende Abschiebung in die türkische Militärdiktatur stürzte sich der 23-Jährige Cemal Kemal Atun in den Tod. Noch heute erinnert eine Skulptur am Ort des Geschehens, auf dem Grund des ehemaligen Gerichtsgebäudes in der Nähe des Bahnhof Zoo in Berlin, an seinen Fall. Auf dem steinernen Denkmal sind die Worte in Deutsch, Englisch und Türkisch zu lesen: Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten.
In der ganzen Bundesrepublik löste der Suizid Atuns Debatten aus. Wenige Wochen darauf entschloss sich eine Berliner Gemeinde dazu, einer Gruppe von Abschiebung bedrohter Asylbewerber, Schutz zu gewähren. In den folgenden Monaten und Jahren taten es ihr zahlreiche Gemeinden gleich. Dabei kam und kommt es bis heute immer wieder zu Konflikten zwischen Staat und Kirche. Rechtlich befindet sich das Kirchenasyl nämlich nach wie vor in einer Grauzone.
Die Ultima Ratio
Im Jahr 2015 einigte sich eine Konferenz mit Vertreter:innen der Kirche und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darauf, Kirchenasyl als grundsätzlich legale Praxis anzuerkennen. Grundbedingung hierfür: Dass es sich bei einem Kirchenasyl um die sogenannte Ultima Ratio handeln sollte, das heißt eine Notlösung für Härtefälle.
Mit dieser Absprache verbunden ist also eine offizielle Duldung der Praxis von Seiten das Staates. Eine rechtlich bindende Grundlage gibt es jedoch nicht. Da es sich bei den Betroffenen im Kirchenasyl oft um Menschen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis handelt und sich die Kirche nicht in einem rechtsfreien Raum befindet, können sie also auch hier jederzeit abgeschoben werden. Dies passiert selten. Regelmäßig werden jedoch Fälle bekannt in denen eine solche Räumung des Kirchenasyls stattfindet.
Auch beim Ablauf des Kirchenasyls kommt es immer wieder zu rechtlichen Grenzfällen. Zwar gibt es von Seiten der Kirche in Absprache mit den Bundesbehörden Vorgaben, was eine Kirchengemeinde dabei beachten muss. Allerdings können oder wollen manche Gemeinden nicht alle Forderungen umsetzen. In Folge davon erhalten beteiligte Gemeindeglieder und Pfarrer:innen vereinzelt auch Anklagen.
Kirchenasyl als Solidaritätskonflikt
Seit der Einsetzung erster Kirchenasyle steht diese Praxis wiederholt in der Kritik das staatliche Rechtssystem zu untergraben. Zwar sei ein Schutz für Geflüchtete bei Gefahr für Leib und Leben gesetzlich verankert, allerdings gilt dieser auch und vor allem für staatliche Einrichtungen. Hätten diese die Gefahr verneint, stelle die Kirche mit ihrem Kirchenasyl staatliche Entscheidungen in Frage. Auch wurde der kirchliche Schutzraum in der Vergangenheit mehrmals als allgemeine kirchliche Kritik an staatlicher Politik wahrgenommen. Dabei handele es sich um ein Missverständnis, betonen Kirchenvertreter:innen. Allerdings wird Kritik an der Asylpolitik des Staates von Seiten der Kirche gerade im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl laut. Immerhin ist auch dieses von restriktiven Einschränkungen betroffen.
Abschiebung heute
Seit 1997 steht vielen Asylsuchenden neben der Abschiebung ins Herkunftsland außerdem und vor allem die Abschiebung in den Erstaufnahmestaat innerhalb der EU in Aussicht. Nach dem sogenannten Dublin-Verfahren ist es Aufgabe des ersten Staates innerhalb der EU, den Geflüchtete betreten, ein Asylverfahren zu beginnen. Bei einer Weiterreise ist es dem entsprechenden Zielland gestattet, in den besagten Erstaufnahme-Staat abzuschieben. Inzwischen sind fast alle Kirchenasyl-Fälle in Deutschland Menschen denen eine sogenannte “Dublin-Abschiebung” droht. In der Öffentlichkeit steht die „Drittstaaten-Regelung“ und speziell das Dublin-Verfahren schon lange in der Kritik. Das Einschreiten der Kirchen verschärfe diesen Konflikt, betonen Kritiker:innen.
Einschreiten als moralische Pflicht
Dementgegen verweisen kirchliche Vertreter:innen immer wieder auf besagte Ultima Ratio. Danach werde die Asylgesetzgebung nicht allgemein in Frage gestellt, Fehlentscheidungen in Einzelfällen aber zur Kenntnis genommen. Kirchenasyl als Reaktion auf menschliches Versagen stehe damit nicht im Widerspruch zum staatlichen Rechtssystem. Gnade und Nächstenliebe als wichtige christliche Gebote verpflichteten Gläubige geradezu zur Hilfeleistung.
Aufnahme von Menschen in Not unter dem Schutz der Kirche, ist die Ultma Ratio, das letzte, legitime Mittel einer Gemeinde, Flüchtlingen durch zeitlich befristete Schutzgewährung beizustehen, um auf eine erneute, sorgfältige Überprüfung ihres staatlich garantierten Schutzanspruches hinzuwirken. Es ist eine Gewissensentscheidung. Sie ist nicht Widerstand gegen den Staat, sondern verhilft dem demokratischen Staat immer wieder zu seinem menschlichen Antlitz.Leitgedanken des Kirchenasyls, Erstinformation Kirchenasyl, www.kirchenasyl.de.
Ausgänge
Letzten Endes bleibt die Frage bestehen, wie ein Härtefall aussehe und nicht (nur) wer – Kirche bzw. engagierte Gemeindeglieder oder Staat – in der Lage ist, diesen zu erkennen. So oder so behält am Ende der Staat das Sagen, denn ein Kirchenasyl funktioniert nur auf Zeit. Danach passiert es oft, dass Härteanträge abgelehnt und Asylsuchende doch abgeschoben werden. Anderen aber bietet der Aufschub die Möglichkeit, mit dem Härtefallantrag doch noch ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu erhalten.
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