Demokratiegeschichten

Verhandlungen trotz Unruhen fortgesetzt – Heinrich von Gagern beweist Resistenz

Frankfurt, 18. September 1848. Heinrich Wilhelm August Freiherr von Gagern ist der Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. Am Tag der Septemberunruhen, als Aufständische versuchen, die Paulskirche zu stürmen, behält er einen kühlen Kopf.

Der rote Sandstein lässt die Paulskirche im Vordergrund des strahlend blauen Himmels malerisch, wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, wirken. Unantastbar erhebt sich das gewaltige Konstrukt über die vielen versammelten Köpfe im dichten Gedränge des einfachen Volkes. Voller Ungeduld drängen sich die Abgeordneten durch die hohen Türen in den Innenraum − eine Kirche, umgestaltet zur Tagung der deutschen Nationalversammlung.

Die Orgel wird durch das Gemälde der Germania und der darunterliegende Altar durch einen roten Vorhang verdeckt. Aufgeteilt in drei Gruppierungen sind die Sitze in einem Trapez in Richtung Rednerpult vor dem Altar angeordnet. Die Konservativen rechts, die Liberalen in der Mitte und die gemäßigten Demokraten links bilden die Hauptfraktionen im Parlament.

Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, zeitgenössische Lithographie. Quelle: gemeinfrei

Das erste frei gewählte Parlament ist seit dem 18. Mai 1848 in der Paulskirche zusammengetreten. Doch die Versammlung steht nun vor schwierigen Entscheidungen, über die sie schon Monate berät. Geklärt wird die Einrichtung einer provisorischen Reichsregierung, die Festlegung der Grenzen des Nationalstaates und die Erarbeitung einer Reichsverfassung. Das Gewicht der Entscheidungen lastet schwer auf den Säulen des fragilen Verfassungskonvents.

Umringt von einer Traube befreundeter Abgeordneter der konservativen Casino-Fraktion erklimmt Heinrich von Gagern die wenigen Stufen zum Eingangstor der Paulskirche. Auf den ersten Blick erweckt er den Eindruck eines gut aussehenden, modisch gekleideten Mannes. Das nachtschwarze Jacket sitzt perfekt auf dem blütenweißen Hemd, das leicht gewölbt unter der stolz angeschwollenen Brust hervorsteht.

Die aufrechte Körperhaltung, die linke Hand auf dem Rücken, der rhythmische Gang, verraten seinen ehemaligen Aufenthalt im Militär. Eine kleine Narbe säumt die rechte Seite seines Gesichts, zehn Tage im Karzer nach einem Duell bei Heidelberg war die Konsequenz seines damaligen hitzköpfigen Verhaltens. Er ist nicht nur angesehenes Mitglied der Paulskirche, sondern hat sich in den vergangenen Jahren im Amt des Landtagsabgeordneten, als Anführer der Opposition Hessen-Darmstadt sowie bei der Vermittlung in der Territorialfrage profilieren können. 

Tumult vor der Paulskirche

Heinrich von Gagern eröffnet die Debatte. Nacheinander tragen die verschiedenen Fraktionen ihre Anliegen vor. Immer wieder gibt es Zwischenrufe, Einwürfe und Unterbrechungen, während von Gagern still dasitzt und den Worten der Redner lauscht. Man erkennt, dass er sich in seiner Position wohlfühlt.

Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung, unter ihnen Heinrich von Gagern (mit der Hand an der Glocke), Lithographie von Eduard Meyer. Quelle: gemeinfrei

Trotz seiner Abstammung aus dem Adelsgeschlecht „von Gagern“ ist er schon damals früh aus dem Schutz seiner Eltern ausgebrochen. Mit 15 Jahren hat er in der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleons Armee gekämpft und ist daraufhin leicht am Fuß verwundet worden. Mit 16 Jahren hat er sich als Urburschenschaftler an der Vereinigung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaften beteiligt. Er ist Teil einer jüngeren Generation, die den Mythos der Befreiungskriege zur Grundlage für ihre Forderungen nach freiheitlichen demokratischen Prinzipien gemacht hat. 

Teilweises Kopfschütteln Gagerns zeigt, dass er nicht mit den Überzeugungen übereinstimmt, die viele seine Vorredner dem Publikum präsentieren. Doch er unterbricht sie nicht, lässt sie ausreden und zollt ihnen damit Respekt. 

Der Streit zwischen Fraktionen und die Meinungsfreiheit sind für den Präsidenten essentiell, um geordnet Konflikte zu bewältigen und fair, nach gleichen Regeln für alle Schichten, verbindlich mehrheitlich getragene Lösungen fällen zu können. Regierungskritik soll konstruktiv geäußert werden und in die Entscheidungsprozesse mit einfließen.

Als erster Redner der Casino-Fraktion ist nun Heinrich von Gagern an der Reihe. Plötzlich wird es laut. Von den Toren der Kirche sind aufgebrachte Stimmen zu vernehmen. Lärm dringt von der schweren Holztür ins Innere. Wie aufgeschreckte Hühner springen die Abgeordneten von ihren Sitzen auf und rufen wild durcheinander. Anscheinend hat sich der wütende Mob, bestehend aus mit der Nationalversammlung unzufriedenen Bürgern, bis an die Tür der Paulskirche vorgedrängt und die bewaffneten Truppen davor außer Gefecht gesetzt.

Heinrich von Gagern aber steht ruhig an seinem Rednerpult. Im Abgeordnetensaal wird die Ordnung wiederhergestellt und Heinrich von Gagern fährt trotz weiter vernehmbarer Rufe kaltblütig fort. In seiner Rede tadelt er vor allem die gemäßigten Demokraten des Deutschen und Nürnberger Hofs. Die Forderung nach einer parlamentarischen Demokratie, in der das Volk bestimmen sollte und der Herrscher nur noch repräsentative Zwecke erfülle, sei unrealistisch und gefährlich.

Abneigung gegen republikanische Ideen

Heinrich von Gagern stammt aus einem liberalen Elternhaus und wurde schon zu Kindeszeiten von den bürgerlich-liberalen Ansichten seines Vaters, Hans von Gagern, geprägt. Während Heinrich im April 1848 Wahlkampf für die Nationalversammlung führt, ist es währenddessen zum Heckeraufstand in Baden gekommen.

Zeichnung von Heinrich von Gagern, Präsident der Nationalversammlung. Quelle: Ws-KuLa, CC BY-SA 3.0

Bei der Niederschlagung ist Friedrich von Gagern, Generalleutnant des badischen Operationskorps, beim ersten Zusammenstoß mit den Anhängern Friedrich Heckers ums Leben gekommen. Der erste große Aufstand der Badischen Revolution ist zu einem politischen Mythos verklärt worden. Heinrich jedoch hat damit nicht nur seinen geliebten Bruder verloren, sondern auch seinen wichtigsten und vertrautesten politischen Berater.

Von Gagern steht der gewaltsamen Revolution feindselig gegenüber. Er ist der Meinung, dass die Demokratie nicht vom Volk selbst, sondern ausschließlich von Volksvertretern ausgeübt werden dürfe. Auch von Gagern möchte seine Freiheiten behalten. Damit repräsentiert er das Bürgertum, das sich nicht traut, eine Republik zu entfalten und keine Privilegien gegenüber der Arbeiterschaft abgeben möchte. Er äußert sich verächtlich zu Minderheiten und sozialistischen Ansichten der breiten Arbeiterschicht. 

In Frankfurt beendet von Gagern geordnet seine Rede. Unter tosendem Applaus findet er zurück zu seinem Platz. Worin liegt also das wertvolle Erbe Gagerns in der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft, im Zusammenspiel des Parlaments? Der größte politische Erfolg von Gagerns liegt in der fraktionsübergreifenden Kompromissbildung.

Seine schwierige Aufgabe besteht in der Vereinigung des Parlaments zu einem gemeinsamen politischen Vorgehen trotz einer Vielfalt von konträren Meinungen. Die Wahrnehmung dieses Amtes voller Würde und Autorität macht ihn nicht nur zu einem der geschätztesten Abgeordneten, sondern auch zur Symbolfigur der Frankfurter Paulskirche. 

Die Diskussionen in der Paulskirche werden von Schüssen unterbrochen. Entgeistert begegnen sich die Blicke der Versammelten im Saal. Die Journalisten unterbrechen ihren sonst unaufhörlichen Schreibfluss, allen ist klar: Alea iacta est, die Würfel sind gefallen: Es wurde Blut vergossen. Die unorganisierten revolutionären Scharen haben keine Chance gegenüber der Überzahl an angeheuerten österreichisch-preußischen Truppen.

Letztendlich steht die Feuerprobe für Heinrich von Gagerns mit der Verfassung noch bevor. Während die mehrheitlichen Tendenzen im Parlament zu einer konstitutionellen Erbmonarchie neigen, ist noch lange nichts entschieden. Doch die Zeit drängt. Die unzufriedenen Menschenmassen vor den Türen des Parlaments sind nur ein Ventil von vielen, welches den Unmut der Bevölkerung Luft macht.

Die Autor:innen: Celina Brucks und Philipp Herzog, Geschichte LK/Q2, Anna-Schmidt-Schule Frankfurt am Main

Dieser Beitrag ist Teil des Projekts „Geist der Freiheit“. Es hat Akteur*innen verschiedener Bereiche in der Rhein-Main-Region eingeladen, an einer Zeitung zum Revolutionsjubiläum 1848/49 mitzuwirken. Sie berichten über Orte, Ereignisse und Personen der Zeit und fragen, was uns die Revolution auch nach 175 Jahren heute angeht. Acht Beiträge von Schüler:innen der Anna-Schmidt-Schule erscheinen in Kooperation mit Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. vorab auf dem Blog „Demokratiegeschichten“. Das „Extrablatt im Geist der Freiheit“ ist ab 3. Mai kostenfrei bei der KulturRegion FrankfurtRheinMain erhältlich. Weitere Informationen finden Sie hier.

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