Demokratiegeschichten

Geschlechtergerechte Sprache und demokratische Debattenkultur

Auf diesem Blog sind in den letzten Wochen zwei Beiträge zum Thema geschlechtergerechte Sprache erschienen. Annalena B. und Claudius Kiene nehmen dabei sehr verschiedene Positionen zu der Frage ein, ob geschlechtergerechte Sprache demokratisch oder undemokratisch sei. Annalena B. zieht eine Verbindung zwischen Gerechtigkeit, einer gerechten Sprache, mit der alle angesprochen werden und sich angesprochen fühlen, und dem demokratischen Ideal von Gerechtigkeit. Sie beantwortet die Frage mit einem eindeutigen ja. Claudius Kiene lehnt diese Antwort ab und zeigt sich besorgt darüber, dass der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache einen negativen Einfluss auf unsere pluralistische Debattenkultur und damit auch für das Funktionieren der Demokratie habe. Gerade diesem letzten Punkt gehen wir nach und wollen erklären, warum die Debatte über das Thema geschlechtergerechte Sprache nicht demokratiefeindlich, sondern im Gegenteil demokratiefördernd ist. Und zwar, wenn wir sie – wie Annalena B. und Claudius Kiene – mit demokratischen Mitteln führen.

Foto von einem Schild einer Bürgerinitiative in Berlin mit einer geschlechtergerechten Sprachfrom
Geschlechtergerechte Sprache im Gebrauch; Foto: Hanna Acke

Claudius Kiene schreibt, dass er sich in seinem Beitrag „weniger mit der sprachwissenschaftlichen Kontroverse um das Thema befassen als vielmehr die Frage diskutieren [möchte], inwieweit Gendern eigentlich als demokratisch gelten kann und welchen Einfluss die Gendersprache auf unsere pluralistische Debattenkultur ausübt.“ Aus unserer Sicht ist es jedoch nicht möglich, die sprachwissenschaftliche Kontroverse über das Thema auszuklammern. Gerade wenn danach gefragt werden soll, inwieweit der Gebrauch geschlechtergerechter Sprache demokratisch ist oder nicht, müssen Wissen über Demokratie und Demokratiegeschichte und Wissen über Sprache und ihre Funktionen einander ergänzen. Deswegen braucht es geschichts- und sprachwissenschaftliche Expertise.

Claudius Kiene übergeht die sprachwissenschaftliche Kontroverse aber weitgehend, indem er die Wissenschaftlichkeit derjenigen in Frage stellt, die aus sprachwissenschaftlicher und aus psychologischer Sicht zu dem Ergebnis gekommen sind, dass der Gebrauch geschlechtergerechter Formen zu einer stärkeren (mentalen) Repräsentation von Frauen beiträgt. Er belegt seine Ansicht lediglich durch den Verweis auf einen Zeitungsartikel und ein populärwissenschaftliches Buch zum Thema. Auf diese Weise lässt er sprachwissenschaftliche Argumente für geschlechtergerechte Sprache gar nicht erst zu. Aus unserer Sicht zeigen jedoch Damaris Nübling und Helga Kotthoff in der hier rezensierten Einführung in die Genderlinguistik wissenschaftlich sehr überzeugend, dass es den von Kiene geleugneten „manifesten Zusammenhang zwischen dem Genussystem einer Sprache [und zwar des Deutschen] und der gesellschaftlichen Rolle von Frauen und Diversen“ durchaus gibt.

Sprachwandel als Wahlakt

Claudius Kiene schreibt, Sprache sei nichts, über das in einem Wahlakt abgestimmt würde, und deswegen könne sie weder demokratisch noch undemokratisch sein. Der Sprachwandelprozess, den er im Anschluss beschreibt, lässt sich aber durchaus als eine Art demokratischer Akt verstehen. Alle Sprecher*innen stimmen gemeinsam durch jede ihrer sprachlichen Handlungen darüber ab, wie sich die Sprache entwickeln wird. So funktioniert Sprachwandel – und dies eben nicht nur in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit. Jugendliche wählen etwa andere Wörter als ihre Eltern, um sich von ihnen abzugrenzen. Viele Dialektsprecher*innen nutzen eine dialektale Aussprache in bestimmten Situationen ganz gezielt, in anderen nicht. Manche Menschen favorisieren englische Wörter, andere kritisieren den Einfluss des Englischen und stellen englischen Lehnwörtern deutsche Synonyme entgegen. Sprache ändert sich durch ihren Gebrauch. Dabei haben alle Sprecher*innen ein demokratisches Mitspracherecht.

Sprache als Marker

Die Entscheidungen für oder gegen bestimmte sprachliche Varianten haben mit einer Funktion von Sprache zu tun, der wir täglich begegnen. Die meisten von uns denken darüber aber eher selten nach. Das Thema wird auch nicht unbedingt im Schulunterricht besprochen. Dort wird meist die inhaltsübermittelnde Funktion von Sprache in den Mittelpunkt gestellt: Sprache als Werkzeug oder Medium der Verständigung. Aber Kommunikation funktioniert eben nicht wie ein digitaler Code. Über Sprache positionieren Menschen sich – nicht nur inhaltlich z.B. politisch, sondern eben auch sozial.

Über Sprache positionieren wir uns. Foto: Pixabay.

Auf diesen Aspekt von Sprache bezieht sich Kiene (ohne ihn so zu benennen), wenn er von geschlechtergerechter Sprache als Marker schreibt. Ja, geschlechtergerechte Formen funktionieren als Marker – oder aus sprachwissenschaftlicher Sicht als Indizes. Das ist aber bei jedem Gebrauch der Sprache so. So können die meisten Dialektsprecher*innen problemlos zwischen ihrem Dialekt und der Standardsprache hin- und herwechseln. In bestimmten Situationen wählen sie jedoch ihren Dialekt, z.B. um Nähe zu ihren Gesprächspartner*innen herzustellen. In anderen Situationen wählen sie die Standardsprache und zeigen damit eher eine professionelle Distanz. Jugendliche wählen bestimmte Wörter und Aussprachevarianten von Wörtern, um ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe auszudrücken. Mit jeder meiner sprachlichen Handlungen vermittele ich nicht nur eine inhaltliche Bedeutung, sondern ich zeige damit auch an, wer ich bin. Meine Gesprächspartner*innen ziehen Informationen über meine soziale und regionale Herkunft, meine politischen Zugehörigkeiten und vieles mehr aus der Art und Weise, wie ich spreche.

Wenn ich geschlechtergerechte Formen wähle, positioniere ich mich für geschlechtergerechte Sprache und stimme dafür, dass diese sich im Gebrauch der Mehrheit durchsetzen sollen. Wenn ich hingegen das generische Maskulinum wähle, positioniere ich mich gegen geschlechtergerechte Sprache und gebe meine Stimme gegen den Genderstern ab. Mit beiden Varianten zeige ich eine bestimmte Perspektive auf die Welt an – bzw. werde so verstanden.

In der Wahl unserer Sprache zeigen sich unsere Perspektiven. Foto: Pixabay.

Elitärer Zwang oder demokratischer Wandel?

Als weiteres Argument gegen die These, geschlechtergerechte Sprache könne demokratisch wirken, führt Kiene an, es handele sich dabei um einen Sprachgebrauch, den eine Elite der Mehrheit aufdränge oder gar aufzwinge. Wir möchten jedoch in Frage stellen, ob hier tatsächlich eine elitäre Minderheit Zwang auf eine Mehrheit ausübt. Aus unserer Sicht handelt es sich vielmehr um einen in der Geschichte üblichen Prozess des Wandels in demokratischen Gesellschaften. Von einer Gruppe von Personen – zu diesem Zeitpunkt meist eine Minderheit – geht eine Innovation aus. Diese Gruppe versucht nun, ihre Idee in der Gesellschaft – und damit in der Mehrheit – (ohne Gewalt) durchzusetzen, indem sie darüber spricht und auch indem sie sie vorlebt. Als Beispiele für solche Prozesse können die Psychiatriereform in den 1970er Jahren und der Wandel im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit genannt werden.

Luise Pusch (2013), eine der ersten Kritiker*innen des generischen Maskulinums. Foto: Wikimedia, CC BY-SA 4.0.

Die Kritik an der Verwendung maskuliner Formen für Personen jeden Geschlechts entstand, wie Annalena B. in ihrem Beitrag zeigt, in der zweiten Welle des Feminismus. Offensichtlich existierte sie in der Frauenbewegung in Deutschland bereits, bevor die Sprachwissenschaftlerinnen Senta Trömel-Plötz und daraufhin auch Luise Pusch sie in den Jahren 1978 und 1979 in der deutschsprachigen Linguistik formulierten. Demokratiegeschichtlich kam der Anstoß zu geschlechtergerechten Formen damit in der Tat aus einer Bewegung, in der mit den beiden Linguistinnen zwei Intellektuelle aktiv waren, die die Idee ausarbeiteten. Das aber ist keineswegs undemokratisch, sondern entspricht durchaus einer Vielzahl von historischen Veränderungen, die von jeweils einer Gruppe angestoßen wurden und dann (ohne Druck oder Zwang) mehrheitsfähig wurden.

Zwang oder Empfehlung?

In Verlagen, Kommunen und an Universitäten entstanden Leitfäden mit Empfehlungen zum geschlechtergerechten Formulieren. Empfehlungen aber sind keine Gesetze, ihre Befolgung wird nicht und darf nicht mit Zwang durchgesetzt werden. Ein Grenzfall, in dem Personen sich eventuell Zwang ausgesetzt sehen, ist die mediale Kommunikation von Unternehmen, Vereinen und Institutionen, die sich als Organisation für (oder auch gegen) geschlechtergerechte Sprache entschieden haben. Arbeitgeber können ihren Angestellten im Rahmen des Gesetzes durchaus Verhaltensregeln auferlegen, die dann im Arbeitskontext gelten – aber niemals darüber hinaus.

Ein immer wieder – auch von Kiene – angeführtes Beispiel für angeblich ausgeübten Zwang zu geschlechtergerechter Sprache sind Studierende, die aus Angst vor einer schlechteren Note in Hausarbeiten geschlechtergerechte Sprache nutzen müssen. Bundesweit scheint es bisher jedoch nur einen bestätigten Fall zu geben, in dem dies passiert ist. Soweit uns bekannt, empfehlen Universitäten häufig den Gebrauch geschlechtergerechter Formen. Eine begründete Empfehlung ist aber nicht mit Zwang gleichzusetzen. Deswegen lautet unsere Empfehlung für Studierende, die solche Ängste haben: Sprechen Sie zunächst mit Ihren Dozent*innen darüber! Vielleicht ist ihre Angst unbegründet. Wenn nicht, suchen Sie nach den offiziellen Regelungen der Universität zum Thema und wenden sich an die zuständige Stelle. Berufen Sie sich darauf, dass es sich um Empfehlungen handelt. Machen Sie, wenn das nicht wirkt, den ausgeübten Druck öffentlich. Wenn Sie diese Schritte gehen, stärken Sie die erwünschte und auch notwendige offene demokratische Debatte über das Thema.

Die generelle Ablehnung von Zwang bedeutet aber auch, dass wir tolerieren müssen, geschlechtergerechte Sprachformen zu hören oder zu lesen, wenn andere Personen sie benutzen. Der anderen Person den Gebrauch der geschlechtergerechten Form zu verbieten, wäre nämlich ebenfalls Zwang. Ähnlich urteilte dementsprechend vor kurzem das Landgericht Ingolstadt: Die Unterlassungsklage eines VW-Mitarbeiters, der seine Persönlichkeitsrechte durch die Nutzung des Gendergaps in an ihn gerichtete Kommunikation von Audi verletzt sah, wurde abgelehnt.

Zwang zu einem Sprachgebrauch darf von keiner Seite kommen; Foto: Pixabay.

Bleiben Sie im Gespräch!

Es steht uns allen natürlich jederzeit frei, die Kommunikation abzubrechen, wenn unser Gegenüber sprachliche Formen nutzt, die wir ablehnen. Aus unserer Sicht sollte dies aber lediglich ein letztes verzweifeltes Mittel darstellen. Stattdessen sollten wir das Gespräch suchen und in der demokratischen Auseinandersetzung erklären, warum wir diese oder jene Sprachform nutzen oder ablehnen. Streiten wir also konstruktiv über geschlechtergerechte Sprache – auf diesem Blog, bei der Arbeit, in der Schule, in allen Medien und am Küchentisch!

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Hanna Acke ist Universitätslektorin in der Germanistik der Åbo Akademi University in Finnland - Karl Heinrich Pohl ist Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

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