Demokratiegeschichten

Den Unrechtsstaat öffentlich bloßstellen – Gesine Oltmanns und die Friedensgebete (II)

Teil I findet ihr hier.

Ab Mitte der 1980er Jahre politisieren sich die Friedensgebete zunehmend, da es verstärkt zu einem Zusammenspiel von kirchlicher Gemeindearbeit, Ausreisewilligen und oppositionellen Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen kommt. Aufgrund der hohen Besucherzahlen gewinnen die Veranstaltungen zusehends an politischer Bedeutung und Strahlkraft. Da hilft es auch nicht, dass die evangelische Landeskirchenleitung den mittlerweile verantwortlichen Pfarrer auf Druck der SED-Führung von seinem Amt entbindet und die inhaltliche Gestaltung der Friedensgebete reguliert. Die Oppositionellen entscheiden sich daraufhin, ihren Protest stärker in die Öffentlichkeit zu tragen, etwa indem sie sich auf dem Nikolaikirchhof versammeln. Wegen zunehmenden Tumulten bei den Friedensgebeten nimmt die Kirchenführung die Beschränkungen schließlich wieder zurück.

Weiteren großen Zulauf erhalten die Gebete, als staatliche Fälschungen bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 erstmals eindeutig aufgedeckt und nachgewiesen werden können. An einer daraufhin organisierten Demonstration nehmen rund 600 Menschen teil. Beim Friedensgebet am Montag darauf kesselt die Polizei die Nikolaikirche massiv ein. Aber je mehr Kontrolle der Staat auf diesen Ort der Begegnung auszuüben versucht, desto mehr Besucher:innen kommen. Auch der evangelische Landesbischof versucht erneut, die Veranstaltungen inhaltlich zu kontrollieren, doch er kann sich gegen die kirchlichen Basisgruppen und Pastoren mittlerweile nicht mehr durchsetzen.

Montagsgebete und -demonstrationen

Nach der öffentlichkeitswirksamen Aktion von Oltmanns und ihren Mitprotestierenden am 4. September 1989 sprechen die Teilnehmenden vermehrt von Montagsgebeten und nennen die anschließenden Veranstaltungen Montagsdemonstrationen. Dies hebt die Verbindung von beidem und vor allem den politischen Charakter der kirchlichen Veranstaltung hervor – was sie bei vielen Menschen noch populärer macht. Die Friedens- bzw. Montagsgebete sind regelmäßig überfüllt und bald in der ganzen DDR bekannt. Leipzig entwickelt sich in der Folge zu einem Zentrum der Friedlichen Revolution.

Nachdem es am 4. September ruhig bleibt – soll heißen, nachdem niemand verhaftet wird –, greifen Polizei und Staatssicherheit in der darauffolgenden Woche umso härter durch. 89 Demonstrierende werden festgenommen und teilweise zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Keine:r der Verhafteten ist älter als 30 Jahre. Dies ändert aber nichts daran, dass in den kommenden Wochen noch mehr Menschen die Montagsgebete und -demonstrationen besuchen, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass der Treff- und Ausgangspunkt immer die Nikolaikirche ist. Am 25. September nehmen schon 8.000 Menschen an einer Demonstration auf dem Ring um die Leipziger Innenstadt teil.

Bei jeder Demonstration stehen Polizei und Staatssicherheit bereit, nach Erhalt des entsprechenden Befehls loszuschlagen. Es gleicht einem Wunder, dass es in Leipzig nicht auch zu einer Eskalation wie auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 kommt. Die Angst vor einer „chinesischen Lösung“ läuft immer mit den Demonstrierenden mit. Auch weil die SED-Führung den Umgang der chinesischen Staatsführung mit den Protestierenden öffentlich lobt.

Wir sind das Volk!

Am 9. Oktober 1989 sind es schließlich 70.000 Menschen, die sich in Leipzig um die Nikolaikirche herum versammeln. Angesichts dieser Menge sind die bereitstehenden Polizeistreitkräfte machtlos, auch weil sie wissen, dass ein Eingreifen fast unweigerlich zu einer Eskalation führen würde. Die Männer in Uniform ziehen sich zurück, die Demonstrierenden haben erstmals auf offener Straße mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ gegen die Staatsmacht gesiegt.

Ausschnitt eines Wandbilds von Michael Fischer-Art in der Leipziger Innenstadt; Foto:
Frank Vincentz; CC BY-SA 3.0

Ein Moment der Klarheit

Das Friedensgebet am 4. September 1989 und die Protestaktion von Gesine Oltmanns und ihren Mitstreiter:innen ist für viele Menschen der Moment, in denen ihnen klar wird, wie rabiat die Obrigkeit in der DDR gegen Oppositionelle vorgeht. Der Augenblick, als die jungen Menschen ihre Transparente ausrollen, brennt sich vielen Zeitzeug:innen als ein entscheidendes Ereignis der Friedlichen Revolution ins Gedächtnis. Dank der westdeutschen Kamerateams gehen die Bilder ins Fernsehen und um die Welt. Viele DDR-Bürger erleben und sehen zum ersten Mal so offen und so mutig Protest gegen ihre Staatsmacht. Oltmanns ist schnell landesweit bekannt. In den nächsten Tagen kommen viele Menschen auf der Straße auf sie und die anderen Demonstrierenden zu und sprechen sie auf die Aktion an, gratulieren ihnen zu ihrem Mut.

Das Ideal der politischen Entscheidung

Demokratien leben von dem Ideal, dass sie allen Bürger:innen ermöglichen, sich am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen – und dass so viele Menschen wie möglich von diesem Recht Gebrauch machen. Die Mehrheit entscheidet, in welche Richtung die Reise geht. Doch auch im Kampf gegen ein autoritäres Regime ist es wichtig, so viele Menschen wie möglich vom eigenen Anliegen zu überzeugen. Antidemokratische Staaten wissen das und sind deshalb gezwungen, ihre Unterdrückungsmechanismen in dem Maße auszuführen, dass zwar im Grunde jeder weiß, was vor sich geht, aber es dafür trotzdem so wenig eindeutige Beweise wie möglich gibt. In einem derartigen Klima der Angst die Stimme zu erheben, Forderungen zu stellen und die Legitimität der Regierung infrage zu stellen, trauen sich die wenigsten.

Gesine Oltmanns und ihre Mitstreiter:innen wagen genau das. Sie riskieren die eigene Freiheit und Unversehrtheit, um die Handlanger des DDR-Regimes in einem Moment zu provozieren, den die ganze Welt mitverfolgen kann. Damit haben sie vielen anderen Menschen Mut gemacht, ebenfalls auf die Straße zu gehen und gegen Unterdrückung und für die Freiheit in all ihren verschiedenen Formen zu demonstrieren. Die Friedliche Revolution ist unter anderem erfolgreich, weil sich so viele DDR-Bürger:innen an ihr beteiligen. Historisch gesehen lassen sich solche großen Umwälzungsprozesse selten auf einen einzigen Moment zurückführen, dafür sind sie schlicht zu komplex. Und trotzdem sind es unter anderem Aktionen wie die von Gesine Oltmanns, die in ihrer Gesamtheit das SED-Regime am Ende zu Fall bringen.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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