Gemeinsinn
Die Frage, welche Handlungen als vorbildhaft für die Demokratie angesehen werden, hat auch etwas mit dem dahinterliegenden Menschenbild zu tun. So gibt es die Auffassung, dass Gesellschaften gedeihen, wenn Individuen das für sie Bestmögliche aus sich herausholen. Dagegen steht die Position, dass für ein gutes Zusammenleben ein erhebliches Maß an Gemeinsinn unerlässlich ist, vor allem dann, wenn der Fokus auf demokratischen Gesellschaften liegt. Lässt man den Eigeninteressen freien Lauf, besteht die Gefahr, dass eine Gesellschaft entsteht, die auf dem Recht der Stärkeren basiert und Minderheiten rücksichtslos beiseiteschiebt.
Eine Sache, die größer ist als man selbst
Eine vielleicht passende Beschreibung besonderer Handlungen ist, dass vorbildhafte Menschen „sich einer Sache [widmen], die größer ist als sie selbst“. Damit gerät das für das Gemeinwohl angestrebte Ziel stärker in den Fokus – und nicht nur die Frage des persönlichen Aufwands. Gerade bei Unglücksfällen fragen sich viele, wie Lebensretter bereit sein können, ihr Leben zu riskieren. Psychologische Analysen haben aber herausgefunden, dass sich im Moment der Entscheidung diese Frage für Lebensretter gar nicht stellt. Denn ihre Wahrnehmung fokussiert sich auf die größere Sache außerhalb der eigenen Person, das Leiden der Hilfsbedürftigen:
„Wer in die Trümmer einer kollabierten Fabrik rennt, hört die Schreie der Verletzten, hört das Weinen des Mädchens, dessen Hand unter schweren Betonstücken eingeklemmt ist – und vergisst sich dabei selbst.“ Diese Selbstvergessenheit gilt nicht nur in diesem Beispiel einer Lebensrettung, sondern auch bei deutlich alltäglicheren Handlungen, etwa bei der Hilfe für in Deutschland ankommende Geflüchtete oder für Nachbarschaftshilfe in Zeiten der Pandemie.
Eintreten gegen Widerstände
Sicherlich gibt es viele Beispiel dafür, dass Menschen sich aufopferungsvoll für das Gemeinwohl einsetzen. Zugleich sollte davor gewarnt werden, dass „Aufopferung“ für andere zum Maßstab besonderer Handlungen gemacht und erwartet wird. Denn damit gelangt man schnell in die Nähe des „Märtyrertums“ und konzentriert sich vornehmlich auf Verhalten, das letztlich dazu führte, dass die Person ihr Leben verlor. Viele Demokratinnen und Demokraten mussten einen hohen Preis für ihr Engagement zahlen: von schlechteren Lebensbedingungen und schlechteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten über Haft bis hin zu Exil oder Tod. Wer sich für das Gemeinwohl einsetzt, riskiert etwas, auch wenn es nicht das eigene Leben ist: Für etwas zu kämpfen, beinhaltet immer auch die Möglichkeit zu scheitern.
Altruismus statt Egoismus
Vielleicht hilft es auch hier herauszuarbeiten, dass der Maßstab der besonderen Handlung nicht nur die Größe des tatsächlichen „Opfers“ sein sollte; vielmehr eignet sich als Kriterium die Bereitschaft, für etwas gegen Widerstände einzutreten. Diese Widerstände können äußerer oder auch innerer Natur sein. Weil sie ihren Fokus auf eine Sache richten, die größer ist als sie selbst, nehmen Menschen in Kauf, eigene Ressourcen wie Zeit und Aufmerksamkeit anderen zur Verfügung zu stellen. Sie tun dies selbst dann, wenn ihr Umfeld sie nicht versteht oder sie statt einer langen Sitzung viel lieber beim Grillabend mit Freunden säßen.
Am 19. März 2021 verlieh Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Große Verdienstkreuz mit Stern an Özlem Türeci und Uğur Şahin, die 2020 einen Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt hatten. Er hob in seiner Laudatio eindringlich Risikobereitschaft und Langfristigkeit als zwei Widerstände hervor, die überwunden werden mussten: „Mit Mut und Demut, und mit einem klaren Ziel vor Augen, haben Sie beide alles auf eine Karte gesetzt, sind als Unternehmerin und Unternehmer in der Tat auch ein großes Wagnis eingegangen […]. Das Besondere ist, dass Sie unermüdlich über eine lange Zeit selbst bereit waren, alles einzusetzen, um Ihre Vision zum Erfolg zu führen.“
Helden der Übererfüllung
Der Philosoph Dieter Thomä hat ein Plädoyer verfasst, das die Bedeutung von Individuen für die Stärkung der Demokratie betont. Dabei identifiziert er „Helden der Übererfüllung“ und „Helden der Überwindung“.
Menschen, die in ihrem Engagement und Einsatz weit über die Pflicht hinausgehen, die mehr als das Geforderte leisten, bezeichnet Thomä als „Helden der Übererfüllung“. Übererfüllung meint: die bestehende und als gut empfundene Ordnung mit einem Mehr an Verhaltensweisen, die die Grundlage des Funktionierens dieser Ordnung bilden, zu festigen und zu verteidigen. Hierzu passt beispielsweise die Forderung des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker stärker zu würdigen: „Ich möchte, dass wir sehen, wer da in Parteien arbeitet und sich engagiert, wer im Gemeinderat sitzt, nicht wegen des Geldes, und viel Zeit dafür aufwendet. Das sind auch Helden unserer Demokratie, und sie verdienen mehr Respekt.“
Helden der Überwindung
„Helden der Überwindung“ geht es dagegen nicht darum, das Gesollte zu überbieten. Sie verrücken Maßstäbe, stellen das infrage, was pflichtgemäß gilt, überschreiten den Status quo. Eine Person im Sinne des „Helden der Überwindung“ lässt sich von ihren Überzeugungen leiten. Ihr Verhalten provoziert. Sie verlässt den bestehenden Konsens und wirbt um Unterstützung für ihre neue Sache. Helden der Überwindung „fordern die Zeitgenossen heraus, ihr Selbstverständnis zu verändern. Dabei treffen sie einerseits auf solche, die ihre Grundsätze starr und hart verteidigen, andererseits auf solche, die umdenken. Die einen halten Helden der Überwindung für Verbrecher, die anderen für Wohltäter. Tatsächlich stellt sich erst im Laufe dieser großen Überwindung heraus, ob die große Sache, für die sich die Helden starkmachen, in die Irre oder ins Freie führt.“
Diese beiden Pole der Übererfüllung und Überwindung eignen sich in besonderem Maße dafür, ein weites Spektrum an Einstellungen und Handlungen in den Blick zu nehmen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Dabei gibt es kein „bedeutender“ oder „weniger bedeutend“. Vorbildhaftes Verhalten kann in dem Einsatz dafür bestehen, den Status quo, der als gut empfunden wird, durch große Anstrengungen zu erhalten und zu verteidigen. Vorbildhaftes Verhalten kann auch sein, Veränderungen des Status quo anzustoßen, wenn dies noch kein Common Sense ist. Beides sind Handlungsweisen, mit denen Menschen sich für das Gemeinwohl einbringen. Und beide sind wichtig.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.
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