Demokratiegeschichten

20.02.1890: Wahlsieg für die Sozialdemokraten

Wenn im September Bundestagswahlen sind, heißt es wieder: Kreuze machen. Genauer gesagt, zwei Kreuze. Eine für das Direktmandat, eine für die Sitzverteilung an die Parteien. Letztere – die sogenannte Zweitstimme – entscheidet also über die Zusammensetzung des Bundestags. Wenn beispielsweise die Sozialdemokraten 20,5% der Wählerstimmen erreichen (Wahl 2017), erhalten sie auch 20,5% der Sitze im Bundestag. Diese 20,5% der Sitze gehen zunächst an die Direktmandate, danach an die Kandidat*innen der Landeslisten. Dieses Wahlsystem wird als personalisiertes Verhältniswahlrecht bezeichnet.

Was aber, wenn es auf einmal keine Zweitstimme mehr gäbe? Sondern nur noch Direktmandate, also ein reines Mehrheitswahlrecht?

Dann könnte zum Beispiel das passieren, was am 20. Februar 1890 bei den Wahlen zum 8. Deutschen Reichstag geschah. Bei dieser erhielten die Sozialdemokraten zum ersten Mal den höchsten Stimmenanteil. 19,7% der Deutschen wählten die SAP – Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Das entsprach fast 1,4 Millionen Stimmen.

Titelseite der Zeitschrift „Der Sozialdemokrat“ vom 8.3.1890: Auf dem Spruchband ist zu lesen: „Unser die Welt, trotz alledem!“ © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Trotzdem erhielt die Partei nur 35 von 397 Sitzen im Reichstag, was einem Anteil von 8,8% entspricht. Denn nur in 35 Wahlkreisen hatten ihre Vertreter die Stimmenmehrheit erhalten und sich gegen die Konkurrenten anderer Parteien durchsetzen können.

Benachteiligung und Unterdrückung der Sozialdemokratie

Gleich zwei Aspekte des Wahlsystems arbeiteten 1890 gegen die Sozialdemokraten.

Zum einen benachteiligte das Mehrheitswahlrecht die dicht besiedelten Gebiete, in denen die Arbeiterpartei stark war. Zwar gelang es der SAP in Städten mit vielen Stimmen Mandate zu gewinnen. Aber andere Parteien gewannen auf dem Land mit deutlich weniger Stimmen Sitze. So etwa die Deutsche Zentrumspartei.

File:Karte der Reichstagswahlen 1890.svg
Ergebnis der Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 nach Wahlkreisen; Quelle: wikimedia.

Zum anderen sprachen sich Vertreter der bürgerlichen Parteien in Stichwahlen gegen die Sozialdemokraten häufig untereinander ab.

Vergeblich versucht der Kanzler Bismarck, den „Sozialist Jack“ in den Kasten niederzudrücken. Karikatur aus Punch, 28.9.1878; © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz.

Ein weiterer Punkt, der nicht direkt mit den Wahlen zusammenhing. Seit 1878 verbot das „Sozialistengesetz“ sozialistische Parteien, Organisationen, Vereine und Versammlungen. Dadurch sollte der Einfluss der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie zurückgehalten werden. Reichskanzler Otto von Bismarck brachte das Gesetz ein und erwirkte immer wieder eine Verlängerung. Den Sozialdemokraten auch das passive und aktive Wahlrecht abzuerkennen, gelang ihm allerdings nicht.

Dass das Gesetz dennoch nur mäßigen Erfolg hatte, zeigten unter anderem die Wahlergebnisse in den 1880er-Jahren. Die Wählerstimmen für die SAP stiegen beständig, sie verdreifachte zwischen 1881-1890 ihre Stimmen. Knapp 1,4 Millionen Menschen wählten sie am 20. Februar 1890. Andere Aspekte, wie das steigende Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen, lassen sich nur schwer in Zahlen fassen.

Erfolg und Aufwärtstrend

Tatsächlich konnte die Sozialdemokratie schon im Januar 1890 einen ersten Erfolg verbuchen. Erstmals scheiterte die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Einige Parteien waren umgeschwenkt, nachdem der frisch gekrönte Kaiser Wilhelm II. hatte durchblicken lassen, gegen die Verlängerung zu sein.

Trotz der Benachteiligung durch das Mehrheitswahlrecht setzte die SAP ihren Aufwärtstrend fort. Die für sie abgegebenen Stimmen verdoppelten sich im Vergleich zur Wahl von 1887. Und die Anzahl ihrer Mandate im Reichstag stieg von 10 auf 35.

Besonderen Eindruck macht dies, wenn als Vergleich die Zahlen der Nationalliberalen, der Deutschkonservativen Partei und der Deutschen Reichspartei hinzugezogen werden. Gegenüber der Wahl von 1887…

  • verloren die Deutschkonservativen 2,8% an Wählerstimmen und 7 Sitze.
  • verlor die Deutsche Reichspartei 3,1% an Stimmen und 22 Sitze.
  • waren die Verluste der Nationalliberalen erheblich: 5,9% an Stimmen und 56 Sitze.

Damit verloren die Deutsche Reichspartei und die Nationalliberalen jeweils mehr als die Hälfte ihrer Sitze.

Die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten 1889. Sitzend von links: Georg Schumacher, Friedrich Harm, August Bebel, Heinrich Meister und Karl Frohme; Stehend von links: Johann Dietz, August Kühn, Wilhelm Liebknecht, Carl Grillenberger, und Paul Singer. © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Die Reichstagwahl von 1890 offenbarte, dass die Sozialdemokratie fest in der Gesellschaft verankert war. Und sich auf Dauer nicht durch Verbote zurückhalten ließ.

Aus dem Konflikt mit Bismarck gingen die Sozialdemokraten letztlich als Sieger hervor. Nur einen Monat nach den Wahlen, in denen die Regierungsparteien herbe Verluste einfuhren, wurde der Kanzler vom Kaiser entlassen. Dazu hatte nicht nur, aber auch der Erfolg der Sozialdemokraten beigetragen.

Auch die kommenden Jahre behielten die Sozialdemokraten, ab 1891 als SPD, diesen Trend bei. 1912 löste sie mit 34,9% aller Wählerstimmen und 110 von 397 Abgeordneten das Zentrum als stärkste Partei im Reichstag ab.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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