Wer mag es nicht, ein schönes Picknick im Freien? Sonnenschein, nette Begleitung, leckeres Essen – kaum etwas zeugt mehr von Idylle und Gemütlichkeit. Kaum vorstellbar, dass so eine Veranstaltung zum Fall des Eisernen Vorhangs beitragen sollte. Doch genau das geschah vor 30 Jahren nahe der ungarischen Stadt Sopron. Dort nutzten über 600-DDR-Bürger*innen das Paneuropäische Picknick, um über die Grenze nach Österreich zu fliehen.
Vorgeschehen
Seit dem Sommer 1989 war die österreichisch-ungarische Grenze nicht mehr so eisern verriegelt wie zuvor. Am 27. Juni 1989 durchtrennten der damalige österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Gegenpart Gyula Horn symbolisch den der Grenze vorgelagerten Signalzaun. Damit bestätigten sie symbolisch den am 2. Mai 1989 begonnenen Abbau der Grenzanlagen durch Ungarn.
Tatsächlich war das Motiv weniger die internationale Entspannungspolitik als ein praktischer Grund: Das Signal- und Grenzsystem kostete die ungarische Regierung jährlich Unmengen, war veraltet und musste ständig repariert werden. Ironischerweise kamen viele der benötigten Materialien aus dem Westen, die Kosten für Material und Import waren nicht mehr tragbar. In Absprache mit der Führung der Sowjetunion begann deshalb im Mai 1989 der Abbau der Anlagen.
Doch egal, was ausschlaggebend für die Demontage der Grenzanlagen war: Bilder, wie Mock und Horn den Stacheldraht durchschnitten, gingen um die Welt. Sie erreichten auch Bürger*innen in der DDR, die in dem Abbau eine neue Chance für die Flucht in den Westen sahen. Im Sommer ’89 stieg die Zahl der Flüchtlinge rasant an: Insbesondere westdeutsche Botschaften in Ostblockstaaten wurden als Zwischenstation nach Westdeutschland genutzt. Die Zahl der Botschaftsflüchtlinge stieg so stark, dass sich die DDR-Regierung am 5. August erstmals gezwungen sah, Stellung zu nehmen.
Wie westliche Medien, Politiker und Dienststellen der BRD verbreiten, besuchen einige DDR-Bürger Botschaften der BRD im Ausland beziehungsweise die Ständige Vertretung der BRD in der DDR, um dort persönlichen Anliegen vorzubringen.“
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ddr-gibt-ausreiseproblem-zu-390362
So verkündete es der Nachrichtensprecher im ostdeutschen Fernsehen. Nur wenige Tage später schlossen die westdeutschen Botschaften in Ostberlin, Prag, Warschau und Budapest wegen Überfüllung.
Idee und Organisation der Veranstaltenden
Das Paneuropäische Picknick fand am 19. August 1989 am Grenztor einer Landstraße statt, die Sankt Margarethen auf österreichischer und Sopronkőhida auf ungarischer Seite verband. Veranstalter waren Mitglieder der MDF-Organisation der ostungarischen Stadt Debrecen und die Paneuropa-Union. Deren Vorsitzender Otto von Habsburg und der ungarische Reformer und Staatsminister Imre Pozsgay agierten als Schirmherren der Veranstaltung. Mit dem Picknick auf der Grenze wollten sie ein Zeichen für die europäische Verständigung und den Wandel in den Ostblock-Ländern setzen.
So besonders wurde das Paneuropäische Picknick, weil in seinem Verlauf eine Grenzöffnung stattfinden sollte. Für drei Stunden sollten Bürger*innen aus Österreich und Ungarn zwischen den Ländern hin und her gehen können. Natürlich mit entsprechender Kontrolle ihrer Pässe, eine völlige Öffnung ohne Kontrolle war undenkbar und auch an regulären Grenzübergängen unüblich.
Somit diente das Picknick auch als eine Art Test: Mit der Veranstaltung wollten Habsburg und Pozsgay prüfen, wie die sowjetische Regierung in Moskau auf eine Öffnung des Eisernen Vorhanges reagieren würde. Würden die in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen eingreifen? Würden andere Mitgliedsstaaten des Ostblocks intervenieren? Pozsgay erinnerte sich 2004 an die Geschehnisse von 1989:
Dieses Dilemma, die Handlungen der Sowjetunion als einer nicht berechenbaren Macht vorauszusehen, – in Ostmitteleuropa hatte man damit ja schon einige problematische Erfahrungen machen müssen –, dauerte genau bis zum Zeitpunkt des Paneuropäischen Picknicks am 19. August 1989.
https://web.archive.org/web/20141129013640/http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/images/publikationen/Hertle_30.pdf
Einbezug der DDR-Flüchtigen
Eine Chance zur Völkerverständigung und ein Zeichen für den Frieden sollte das Paneuropäische Picknick werden. Dass es zum Anlass für die größte Massenflucht von DDR-Flüchtigen werden sollte, war so nicht geplant. Wobei diese Entwicklung zumindest teilweise von den Veranstaltenden bedacht war und so nicht gänzlich unerwartet kam:
Ich hatte die Idee, daß man einen Präzedenzfall schaffen könnte, wenn dort das Tor für einige Stunden offen wäre und ostdeutsche Flüchtlinge an diesem Grenzabschnitt Ungarn verlassen könnten.
https://web.archive.org/web/20141129013640/http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/images/publikationen/Hertle_30.pdf
Unter den DDR-Bürgern, die sich „auf Urlaub“ in Ungarn befanden, wurde Werbung für das Picknick gemacht. So ließ die Paneuropa-Union tausende Flugzettel verteilen, mit denen zu einem Picknick nahe der Grenze bei Sopron eingeladen wurde. Hunderte Bürger*innen waren in Campingplätzen in der Umgebung untergekommen; viele von ihnen wollten oder konnten nicht mehr in die DDR zurück. 15 Jahre später erzählten drei Familien von den Tagen vor und ihrer Flucht während des Paneuropäischen Picknicks.
Flucht in den Westen
Eigentlich wollten die Organisator*innen die Grenze symbolisch pünktlich um 15h unter Einbezug der Presse öffnen. Doch die angereisten Bürger*innen der DDR hielten sich weder an den Zeitplan noch an das geplante Zeremoniell. Um 14.57h drücken sie das alte Holztor, das die Grenze markiert, auf und stürmten nach Österreich. (Weil der erste Ansturm auf die Grenze vor Eintreffen der Presse geschah, sind von diesem auch keine Bilder vorhanden.)
Die ungarischen Grenzsoldaten reagierten konsterniert, bzw. gar nicht. Sie ließen die DDR-Flüchtigen passieren und zeigten ähnliche Reaktionen wie die DDR-Grenzer*innen wenige Monate später: Zuschauen, Wegsehen, Ignorieren, aus dem Weg gehen. Und ganz wichtig: Niemanden an der Flucht hindern oder gar schießen. Zwischen 600 und 700 DDR-Bürger*innen passierten an diesem Tag ungehindert die Grenze zu Österreich.
Folgen des Picknicks
In Folge der Massenflucht während des paneuropäischen Picknicks verschärfte die ungarische Regierung die Bewachung ihrer Grenze zu Österreich wieder. Man wollte die Regierung der DDR nicht zu sehr brüskieren. Erst nach der offiziellen Grenzöffnung zu Österreich am 10. September 1989 gelangten weitere zehntausende DDR-Bürger wieder über diesen Weg in den Westen.
Doch die Bilder der Flucht ließen sich nicht zurückhalten; über die Tagesschau gelangten sie auch in die DDR. Immer mehr Menschen verließen die DDR Richtung Ungarn oder Tschechoslowakei, wo sie zu Hunderten in der deutschen Botschaft in Prag kampierten. Doch auch die Daheimgebliebenen blieben nicht untätig: Im Herbst ’89 forderten sie in immer stärker anwachsenden Massendemonstrationen demokratische Reformen und Rechte.
Das Paneuropäische Picknick allein läutete nicht den Fall des Eisernen Vorhangs ein. Aber es war zweifellos ein Zeichen dafür, dass Grenzen überwunden und Freiheit gefunden werden konnte. Noch heute erinnert eine Gedenktafel an der Nordostecke des Reichstagsgebäudes in Berlin an das Paneuropäische Picknick.
1 Kommentar
uwe rauch
6. August 2021 - 7:10Ich war dabei nicht durch das Tor sind durch die ganze Grenze über die Weinberge geflüchtet