Demokratiegeschichten

100 Jahre politischer Mord: Linke Gewalt und Presse

„Haltern, 7. Oktober.
An der Stelle, wo am 2. Mai 1920 Graf Westerholt meuchlings ermordet wurde, ist ein mächtiger Kieselstein, Findling errichtet. Zehn Pferde zogen den 150 Zentner schweren Stein […] nach der Ermordungsstelle, die bisher nur ein einfaches Holzkreuzchen bezeichnete. In den Stein soll eine Bronzeplatte zum Andenken eingelassen werden.“

Wer hatte den Grafen in einem Wald am Rande des Ruhrgebietes ermordet? Der zentrumsnahe „Münsterische Anzeiger“ hatte schon 1920, gleich nach Bekanntwerden der Tat, einen Verdacht:

„Frhr. v. Westerholt auf Schloß Sythen, welcher heute vor dem Kriegsgericht in Münster als Zeuge in der Sache gegen den Rotgardisten Susan wegen Plünderung des Schlosses Sythen auftreten sollte, wurde heute morgen etwa eine Stunde von Sythen entfernt im Freien ermordet aufgefunden. Es war bereits vor einiger Zeit ihm angekündigt, daß ein Preis von 20.000 Mark von Seiten der Roten Armee auf seinen Kopf gesetzt sei.“

„Bolschewistische“ Mörder?

Steckte die Rote Ruhrarmee hinter der Ermordung des Grafen – jene kommunistischen Arbeiter, die nach dem Kapp-Putsch 1920 mit Waffengewalt für die Fortführung der sozialistischen Revolution gekämpft hatten? Der „Münstersche Anzeiger“ jedenfalls war sich schon am 4. Mai 1920 sicher.

„Das ist russischer Bolschewismus in Reinkultur, und auf dem Boden, wo derartige Pflanzen gedeihen, wächst auch noch mehr Unkraut, das alle jungen Keime aufblühenden Wirtschaftslebens ersticken wird, wenn nicht eine eiserne Faust hier eingreift und Ordnung schafft.
Spalten ließen sich füllen mit den Schilderungen der zum Teil bereits vor Gericht erwiesenen Greueltaten. “

Garanten der Ordnung

Gefahr drohe angeblich jedem Bürger – Schutz böten allein die Ordnungskräfte.

„Wer bietet uns die Gewähr dafür, daß sich das, was sich gestern abend bei Sythen abgespielt hat, nicht morgen in Buer, Bottrop, Essen, Hamborn wiederholt. Aber der irregeleiteten Bevölkerung, wenigstens einem Teile von ihr, erscheinen infolge der von den sozialdemokratischen Zeitungen mit Fleiß betriebenen traurigen Hetze die für Ruhe und Ordnung eintretenden Soldaten und Sicherheitspolizisten als Bedrücker, während sie in Wirklichkeit ihre Befreier sind. […]
Auch die Truppe weiß glänzenden, wie tränenden Auges von manchem Führer zu erzählen, der sein Leben gelassen hat oder zum Krüppel geschossen worden ist aus lauter Pflichtgefühl und Liebe zum Vaterlande und zu seinen deutschen Brüdern.“

Bundesarchiv Bild 119-2571- 0006, „Rote Armee“ im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 1920, Fotograf*in: o. Angabe

Die Kämpfe im Ruhrgebiet nach dem gescheiterten Kapp-Putsch hatten zahlreiche Opfer auf beiden Seiten gefordert. Regierungstruppen und Rote Armee verübten Morde und Gräueltaten. Die bürgerlich-konservative Presse empörte sich jedoch ausschließlich über Gewalttaten von links.

Der „weiße Schrecken“

Auf der anderen Seite blickte die kommunistische Presse nur auf die Gewalt der Truppen, die die Regierung in den Kampf geschickt hatte. So schrieb die „Rote Fahne“ am 7. April 1920:

„Im Ruhrgebiet herrscht der weiße Schrecken. Die angekündigte ‚Polizeiaktion‘ scheint sich in einen planmäßigen Rachefeldzug der Generale zu verwandeln. Die Militärs handeln selbständig, ohne sich irgendwie um die Weisungen der Regierung zu kümmern. […]

Die zurückflutenden Arbeitermassen werden beschossen. […]

Die Not der Flüchtlinge ist entsetzlich. […]

Der Kommandant des jüngst geschlagenen Freikorps Schulz hat […] erklärt, daß seine Leute rücksichtslos vorgehen und keine Gefangenen machen würden.“

Bundesarchiv Bild 119-2785-05, Originaltitel: Freikorps Roßbach in Essen, 1920/21, Fotograf*in: o. Angabe

Presse und Übertreibungen

Die politische Atmosphäre wurde jedoch nicht nur durch die Verteufelung des Gegners in der Presse vergiftet. Hinzu kamen – gerade auf Seiten der Nationalisten – außerdem haltlose Übertreibungen: Die deutschnationale „Deutsche Zeitung“ etwa bezifferte die Zahl der von links verübten Morde am 3. August 1922 auf 276. Eine Zahl, die der gewissenhafte Statistiker und Publizist Emil Julius Gumbel, der sich intensiv mit den politischen Morden in der Weimarer Republik befasst, zurückwies. Seiner Statistik zufolge hatten linke Gewattäter bis zu diesem Zeitpunkt 22 Opfer zu verantworten.

Zu diesen 22 Opfern gehörte ein Mann nicht: Graf von Westerholt. Nicht Rotarmisten hatten ihn erschossen, sondern ein wildernder Freikorpsangehöriger aus Oldenburg. Dieser wurde 1925 zum Tode verurteilt.

Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe  „100 Jahre politischer Mord in Deutschland“.  

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Über uns 
Historikerin, Autorin, Kuratorin Mitarbeiterin im Projekt "Gewalt gegen Weimar" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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