„Breslau, 21. Oktober. Der Oberbürgermeister hat angeordnet, daß sämtliche städtischen Gebäude, einschließlich der Schulen, auf Halbmast oder mit Trauerflor zu flaggen sind.“
Der Grund für diese Anordnung, von der der „Vorwärts“ am 22. Oktober 1921 berichtete, ist kein Trauerfall. Vielmehr ist auf der Pariser Botschafterkonferenz die Teilung Oberschlesiens beschlossen worden – eine Möglichkeit, die der Versailler Vertrag vorgesehen hatte. Das oberschlesische Kohle- und Industrierevier um Kattowitz gehörte nun zu Polen. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte bis weit ins linke Milieu hinein empört, weil die Entscheidung dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu widersprechen schien. Um dieses nicht zu verletzen, war die Frage der Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen 1918 zunächst offen gelassen worden. Eine Volksabstimmung sollte über den Verbleib des umstrittenen Gebiets entscheiden, das bis dahin unter alliierter Verwaltung stand. Sowohl polnische als auch deutsche Institutionen hatten massive Propaganda für diese Abstimmung betrieben.
Kampf um jede Stimme – mit allen Mitteln
„Oberschlesier! Wahret Euren Vorteil – wählet deutsch!“
„Schlesier seid auf der Hut! Der Tod Eures Wohlstands naht sich!“
„Wir Ober-Schlesier wählen deutsch!“
„Der polnische Wolf begehrt Eure Heimat! Duldet das nicht!“
„Oberschlesier! Laß nicht Fremde ernten, was Du gesät hast – stimme deutsch!“
Von vergleichsweise harmlosen Parolen ging das Spektrum bis hin zum angeblich drohenden Untergang einer ganzen Region. Schlimmer noch: Oberschlesien war der deutschnationalen Propaganda zufolge die Region, in der die Zukunft des Deutschen Reichs entschieden würde. Doch man verließ sich nicht auf solche Propaganda: Eigens eingesetzte Züge brachten 180.000 Menschen zur Abstimmung in ihre oberschlesischen Herkunftsorte und beeinflussten auch auf diese Weise das Abstimmungsergebnis massiv.
Abstimmung am 21. März 1921
Mit Erfolg: Am 21. März 1921 stimmten insgesamt fast 60 Prozent der Wahlberechtigten für den Verbleib bei Deutschland. Aber wegen der sehr ungleichmäßigen Verteilung der Stimmen blieb die Grenzziehung schwierig. Ab Anfang Mai 1921 besetzten polnische Verbände, kaum behindert von der alliierten Verwaltung, weite Gebiete in West-Oberschlesien. Sie drohten die zentrale Stadt Oppeln einzunehmen, um vollendete Tatsachen zu schaffen.
Als Reaktion gründeten die Deutschen erste Einheiten des Oberschlesischen Selbstschutzes. Innerhalb von wenigen Tagen kamen aus dem ganzen Reich angeblich längst aufgelöste Freikorpsverbände und Angehörige der geheimen „Organisation Consul“ zu Hilfe. Die deutsche Regierung tolerierte dies. Am 21. Mai eroberten diese Truppen Annaberg und hissten dort Schwarz-Weiß-Rot – die Farben des Kaiserreichs.
Nach dem „Abzug“
Nur das Eingreifen der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitskommission für Oberschlesien verhinderte das weitere Vorrücken der deutschen Einheiten. Doch der angeordnete Rückzug und die Entwaffnung aller nicht-einheimischen Verbände wurde vielfach unterlaufen. Die in Oberschlesien verbleibenden Mannschaften terrorisierten nicht nur polnische, sondern auch deutsche Einheimische. Und sie verübten bis zu 200 Fememorde an angeblichen „Verrätern“ der „nationalen Sache“ – Verbrechen, die wenig später unter eine allgemeine Amestie fielen.
Die Entscheidung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs, Oberschlesien zu teilen und das Kohlerevier um Kattowitz Polen zuzuschlagen, schaffte vorläufig klare Verhältnisse an der deutschen Ostgrenze. Doch die nationalistische Kampagne verstärkte die politische Radikalisierung und unterstrich die Schwäche der Reichsregierung. Freikorps und die rechtsradikale „Organisation Consul“ hingegen nutzten den Einsatz in Oberschlesien, um noch engere Netzwerke zu knüpfen – zur Bekämpfung der Republik.
Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe „100 Jahre politischer Mord in Deutschland“ .
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