Demonstrationen – was wäre die friedliche Revolution 1989 ohne sie gewesen? Genau: wahrscheinlich keine. Von der ersten Montagsdemonstration in Leipzig und der gewaltfreien Demonstration am 9. Oktober, die zum Wendepunkt der Friedlichen Revolution wurde, berichteten wir bereits. Nun reihen wir eine weitere Demonstration in die Reihe der Meilensteine des Herbstes ’89. Die erste genehmigte und zugleich größte nicht staatlich gelenkte Demonstration in der DDR am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz.
Organisation
Um die Durchsetzung der Artikel 27 und 28, also der Rede-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, sollte es laut Antrag gehen. Initiator*innen waren Berliner Kunst- und Kulturschaffende, z. B. Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen. Einige von ihnen waren als Redner*innen am 4. November auf dem Alexanderplatz. Darunter etwa Johanna Schall, Jan Josef Liefers, Christa Wolf, Kurt Demmler, Christoph Hein und viele mehr. Unterstützt wurden sie von Mitgliedern des Neuen Forums, die ebenfalls als Redner*innen und Mitorganisator*innen fungierten.
Nach über 40 Jahren DDR fand also die erste offiziell genehmigte Demonstration statt, die vom Volk und nicht von der Regierung ausging. Eine ungewohnte Situation. Wie verhält man sich eigentlich auf so einer freien Demonstration? Was tut, was sagt man?
„Reformen, aber unbekrenzt“
Die Berliner*innen, so wurde schnell klar, nahmen die Situation mit Humor. Die hundertausenden Teilnehmenden – manche sprachen gar von einer Millionen – waren nicht so laut wie die Demonstrierenden in Leipzig. Kaum Sprechchöre erklangen. Doch in Berlin war die Stimmung gelöster als in Leipzig. Hier wussten die Protestierenden, dass sie auf der Straße sein durften.
Und das nutzten sie schnell aus. Zahlreiche Banner und Plakate waren zu sehen, Forderungen nach Reformen gingen einher mit Kritik an der Staatsspitze. Insbesondere letztere fiel scharf, aber durchaus humorvoll aus. Gerade der neue Staatsratvorsitzende Egon Krenz kriegte seinen Senf weg:
„Reformen, aber unbekrenzt“ „Blumen statt Krenze“ „Wir lassen uns nicht auskrenzen“ “ „Unsre Herzenssache ist, dass sich Egon Krenz verpisst!“
Für diese Sprüche hätten die Demonstrierenden wenige Wochen zuvor noch mit jahrelangen Haftstrafen rechnen müssen. Doch nicht an diesem 4. November. Polizei und Staatssicherheit hielten sich im Hintergrund, Zwischenfälle und Eingriffe gegen die Menschen auf der Straße gab es nicht. Unbehelligt legten Menschen ihre Plakate vor dem Palast der Republik aus oder brachten sie an den Wänden der Volkskammer an.
Kundgebung auf dem Alexanderplatz
Über drei Stunden dauerte die Kundgebung auf dem Alexanderplatz, mehr als 20 Redner*innen kamen zu Wort. Die Hoffnung auf Reformen war groß, das neu gewonnene Selbstbewusstsein auch:
Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.
So formulierte es der Schriftsteller Stefan Heym.
Auch die Schauspielerin Steffie Spira wurde eifrig für ihren Beitrag beklatscht:
Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.
Und noch etwas feierte an diesem Tag Premiere. Denn die Demonstration wurde nicht nur von westlichen Medien begleitet, sondern auch live im DDR-Fernsehen übertragen. Später stellte sich heraus, dass das Kamerateam den Einsatz nicht mit der Redaktion abgesprochen hatte. Zum Glück: Völlig legal sahen so die DDR-Bürger*innen, wie Oppositionelle sich gegen die Staatsführung wendeten, Reformen und Rechte einforderten – und dafür nicht abgestraft wurden. Revolutionär!
Unerwünscht und ausgelacht
Und noch etwas konnten die Zuschauenden vor Ort und im Fernsehen verfolgen. Wie Repräsentanten des Staates auf der Bühne ausgepfiffen, ausgebuht und ausgelacht wurden. Dass auch Vertreter*innen des Staates redeten, darauf hatte wohl Egon Krenz bestanden. Einen Gefallen tat er den Rednern, der Staatsführung und sich damit nicht.
Als einer der Staatsvertreter forderte Günter Schabowski, Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, der Menge zurief:
„Billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu.“
https://www.youtube.com/watch?v=pGy4Rz4D3Uw&t=26s
… musste den Demonstrierenden dieses „Angebot“ lächerlich erscheinen. Jahrzehntelang verweigerte die SED-Führung ihnen jegliche Mitsprache. Und jetzt, wo sie dabei waren, die Rollen umzukehren, wollte die DDR-Führung endlich Zugeständnisse machen, um ihren Machtanspruch zu erhalten. Neben Schabowski sprach für die DDR noch Markus Wolf, der ehemalige Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit.
Was Fehlt
Was übrigens kaum zu Wort kam, an diesem Tag: Der Wunsch nach Einheit. Wer am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz stand, der wollte nicht rüber in den Westen, der wollte einen Neustart:
Stellt dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg.
Christa Wolf in ihrer Rede auf dem Alexanderplatz
Die erste erlaubte Demonstration war kein Ruf nach Wiedervereinigung. Was hier gefordert wurde, das waren Reformen, das war eine neue Form von Demokratie oder Sozialismus. So ganz einig war man sich da noch nicht. Aber darin, dass man endlich etwas aufbauen, Dinge anders anpacken, zum ersten Mal selber gestalten, grundlegende Veränderungen schaffen wollte. Eine ausgelassene Stimmung herrschte in Berlin, so viel gelacht wurde auf einer Oppositionsveranstaltung zuvor wohl nie.
Nur fünf Tage später fiel die Mauer. Auch an diesem Tag wurde gefeiert. Erst im Laufe der nächsten Monate kam die Idee der Wiedervereinigung vom Westen aus auch im Osten an und wurde kein Jahr später Realität. Es war ein anderer Neuanfang, als der, den sich viele am 4. November erträumten. Was seitdem gelungen ist und wo es nach Verbesserung bedarf, darüber diskutieren wir noch heute.
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