Demokratiegeschichten

Im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen? – Fünf Überlegungen zu den Wurzeln der CDU

Manche werden sicher die Augenbrauen hochziehen, wenn diese sehr pathetische Formel zum Leitbild der CDU erklärt werden soll. Dennoch fiel mir keine bessere Formulierung ein, um das zentrale Selbstbild der frühen Union zu beschreiben – aus verschiedenen Gründen: So waren die Christdemokraten die treibende Kraft hinter dem Gottesbezug im Grundgesetz. Ohne ihr vehementes Eintreten für eine wesentlich stärkere Formel, in der Gott als der „Herr der Geschichte“ angerufen wird, wäre es wohl nie zu diesem sprachlichen Kompromiss gekommen, der noch heute in der Präambel des Grundgesetzes steht.

Gleichzeitig steht dieser Satz wie nur wenige andere für die Grundidee einer christlichen Partei, die sich aus ihren religiösen Grundwerten heraus den Menschen in den Fokus ihrer Politik setzen will. Es wird von der Verantwortung gesprochen, die man zu tragen hätte. Dabei wären wir bei einem Begriff, der schon von der katholischen Zentrumspartei gerne als Kampfbegriff in der politischen Debatte genutzt wurde. Keine andere Partei hat durch die vierzehn Jahre der Weimarer Ära so offensiv an ihrem Bild als staatstragende Partei gearbeitet wie das Zentrum. Dieses Selbstverständnis übernahm die CDU für sich – bis heute.

75 Jahre CDU

Das wird auch gerade in diesen Monaten deutlich. Im Jahr 2020 feiert die Union den 75. Jahrestag ihrer Gründung auf lokaler Ebene und den 70. „Geburtstag“ der Bundespartei. Sie stellte sechs Bundespräsidenten und fünf der acht Bundeskanzler, die insgesamt bisher auf 51 Regierungsjahre kommen. Eine große Zahl an Ministerpräsidenten, Oberbürgermeistern und anderen politischen Funktionsträgern kommen noch hinzu.

Begründet ist dieser Einfluss aber gerade in den Weichenstellungen dieser oben beschriebenen Anfangsphase, in der sie an den Grundlagen der Stabilität und der Basis der Bundesrepublik mitwirkte. Dies war kurz nach Kriegsende nicht absehbar. In ihren ersten Jahren war die CDU in ihrer Mitgliedschaft zu wesentlichen Teilen eine Nachfolgepartei der katholischen Zentrumspartei. Sie hatte Mühe, neue Bevölkerungsgruppen zu integrieren und aus dem Korsett alter Denkweisen über Politik auszubrechen. Dies sollte sich ändern. So liegt ein Weg die Union zu verstehen gerade in dem Suchen nach den Verbindungen und Brüchen zur Weimarer Ära in diesen frühen Jahren. Einige diese Besonderheiten will ich Ihnen in fünf Überlegungen näherbringen. Sie geben keinen allgemeinen Überblick, mögen sich teilweise überschneiden, gar widersprechen und sie sind oft auf den katholischen Teil der Partei fokussiert. Jede dieser Entwicklungen beschreibt aber einen Teil der Besonderheiten, die meiner Ansicht nach die CDU zu einer erfolgreichen Partei gemacht haben: 

Weg mit den konfessionellen Unterschieden!

Natürlich: Die große Neuerung der Union liegt in der Überwindung des konfessionellen Gegensatzes. In der neuen Partei sollten sowohl Katholiken wie auch Protestanten eine politische Heimat finden können. Bereits angedacht in der frühen Weimarer Republik, gewann die Idee durch den christlichen Widerstand der NS-Zeit an neuer Energie, da hier Katholiken und Protestanten auch gemeinsam gegen den Nationalsozialismus vorgingen.

Für die überwiegende Mehrheit der früheren Zentrumsleute war es 1945 klar, dass eine konfessionell geprägte Partei wie das Zentrum keine Zukunft haben könnte. Einerseits wäre eine solche Partei nie in der Lage gewesen, über die 10 bis 15 Prozent zu kommen, die das Zentrum normalerweise erhielt. Andererseits spielte es auch in das Pathos der damaligen Zeit hinein, dass sich beide Konfessionen verbünden, um Deutschland wieder aufzubauen. Mit den Protestanten aus dem Bürgertum und den ländlichen Regionen war die CDU in der Lage, auch jenseits der katholischen Regionen zu einer starken politischen Kraft zu werden. Eine besondere Leistung für die Bundesrepublik lag in der Bindung dieses Teils des protestantischen Wählerreservoirs.

Im Unterschied zu den Katholiken verfügten die Protestanten in der Weimarer Zeit über keine große Milieupartei, die sich flügelübergreifend als protestantische Partei verstand und deutschlandweit aktiv war. Man fand Protestanten in verschiedenen liberalen und rechten Parteien. Wählerwanderungen im protestantischen Milieu waren stärker ausgeprägt als bei den Katholiken. Die Gründung der CDU beendete diesen Zustand zusehends. Trotz mancher Querelen zwischen den Konfessionen bewies die Union eine enorme Integrationskraft, stabilisierte damit die bürgerliche Seite des politischen Spektrums und gewann neue Bevölkerungskreise für die Republik.

Maß halten in allen Dingen – Wider die (extremen) politischen Ränder

Spätestens seit der 68er-Bewegung wird die Ära Adenauer gemeinhin als Zeitalter der Reaktion oder zumindest als konservative Ära wahrgenommen.  Im Bezug auf gesellschaftspolitische Fragen mag das durchaus zutreffen. Nach unserem heutigen Maßstab war die Familienpolitik oder der Umgang mit Frauen der 50er und 60er Jahre in Deutschland nicht gerade progressiv. Jenseits davon war die frühe CDU aber sicher keine konservative Partei im klassischen Sinne. Die Führungsriege der Partei um den Kanzler zeichnete sich durch eine inhaltlich flexible, aber stets moderate Linie aus, die weder die linken Experimente eines „Christlichen Sozialismus“ noch die frühere Linie des rechten Flügels der alten Zentrumspartei vertrat oder auch nur akzeptierte.

Dem lag eine Lehre aus der Weimarer Zeit zugrunde: Das Zentrum war nie eine programmatische Partei, sondern die Partei der katholischen Minderheit. Der Zusammenhalt der Partei fußte auf der gemeinsamen Konfession und nicht auf der Einigkeit in inhaltlichen Fragen. Der linke Flügel des Zentrums hatte mehr mit der SPD gemein als mit dem eigenen rechten Flügel, der nur in Teilen treu zur Republik war. Im Laufe der 20er Jahre schlitterte das Zentrum einige Male knapp an einer Spaltung vorbei. Das wurde in der frühen CDU verhindert, auch um den Preis, dass schon bald am linken und rechten Rand beachtliche Teile der frühen Partei verloren gingen.

Der linke Flügel suchte sich eine neue politische Heimat. Dies ermöglichte es langfristig der SPD, sich verstärkt kirchlich gebundenen Wählern zu öffnen, die eher dem linken Flügel angehörten. Katholiken hörten auf, einen geschlossenen Block zu bilden, mit positiven Folgen für die Stabilität des gesamten Parteienspektrums.

„Politik ist ein Kampfsport“ – vor allem in der Mitte der Gesellschaft

So drückte es zumindest Helmut Schmidt in seinen jungen Jahren als Bundespolitiker aus. Er beschrieb damit ein Wesensmerkmal jeder funktionierenden parlamentarischen Demokratie. Sie muss ein kontinuierlicher Konflikt um die bessere Lösung zwischen politischen Blöcken sein. Dafür benötigt sie Regeln, an die sich alle Mitstreiter halten.

Der vielleicht wichtigste Beitrag Adenauers liegt in der Positionierung der Union als eine Partei rechts der Mitte mit einem klaren Feindbild auf der linken Seite des Spektrums. Schon in seinen ersten Wahlkampfreden machte er sehr deutlich, wo er den (demokratischen) Gegner der Union sah, in der SPD und in der politischen Linken. Man muss hier gar nicht mit der Angst vor dem Sozialismus anfangen, die in vielen politischen Reden dieser Zeit mitschwang.

Die Union vermied damit einen der Fehler der Weimarer Republik. In dieser hatten sich die prodemokratischen Kräfte regelmäßig zu einer kaum zu haltenden großen Koalition der Mitte zusammengetan. Jedoch fehlte oft die Kompromissbereitschaft unter den Koalitionspartnern und sie scheiterten am hehren Ideal eines demokratischen Bollwerks, welches am Ende nur die extremen Ränder stärkte.  Durch Adenauer wurde die moderate, dem Grundgesetz verpflichtete CDU zum rechten Rand des deutschen Parlamentarismus. Der Wettstreit um die beste Lösung fand in der politischen Mitte statt. Extreme Parteien, sofern überhaupt erlaubt, hatten kaum eine Chance.

„Das einzige, was die Kirche zur Politik sagen soll, ist ‚Ja‘ und ‚Amen‘“ – Kirche und katholische Verbände

So drückte zumindest Adenauer sein Verständnis vom Verhältnis zwischen Politik und Kirche aus, was ihm der politische Gegner jedoch nicht abnahm. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher sprach von der katholischen Kirche als der 5. Besatzungsmacht. Der protestantische Pastor und Widerstandskämpfer (und spätere Kirchenpräsident) Martin Niemöller bezeichnete die Bundesrepublik als Konstrukt, welches im Vatikan gezeugt und in Washington geboren worden war. 

Einer näheren Prüfung halten diese zugespitzen Thesen aber nicht stand. Es ist erstaunlich, wie rapide der Einfluss sank, den Kirchenvertreter auf die frühe CDU nehmen konnten. Übernahm die Union anfangs noch bei Fragen der Bildungspolitik die Forderungen der deutschen Bischöfe, verebbte diese Bereitschaft schnell. Gerade Adenauer wandte sich den Kirchenführern meist nur dann zu, wenn er für eine Wahl eine Empfehlung des Klerus für die Union erhalten wollte. Aber auch Politiker, die eine enge Bindung zum Klerus hatten, ließen kirchliche Einflussnahme immer weniger zu. Heinrich Krone, einer der wichtigsten Ansprechpartner kirchlicher Lobbyisten, forderte noch 1945 ein größeres Engagement der Kirchen in der Politik. Schon in den 50ern lehnte er eine solche Einmischung ab und war kaum noch bereit, sich für kirchliche Forderungen stark zu machen.

Diese Entwicklung hatte ebenfalls mit dem Hintergrund der jüngeren CDU-Politiker zu tun. Viele der alten Zentrumsveteranen kamen aus den katholischen Verbänden, den christlichen Gewerkschaften oder der konfessionellen Presse. Einige dieser Institutionen existierten nach 1945 kaum noch oder spielten politisch keine Rolle mehr. Ein konfessioneller politischer Massenverband wie der „Volksverein für das katholische Deutschland“, der noch Anfang der 20er Jahre mehr als eine Million Mitglieder hatte, oder die christlichen Gewerkschaften wurden nicht wieder gegründet. Die Konsequenz für die Mitgliedergewinnung war enorm. Die neuen und jungen Mitglieder der CDU traten nun direkt der CDU bei oder kamen aus der Jungen Union. Der fehlende Hintergrund in kirchlichen Verbänden sollte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Partei haben.

Alter Wein in neuen Schläuchen? Wie sieht es mit dem Personal aus?

Dieser angesprochene Personalwechsel ist nicht zu unterschätzen. Ein Generationenwechsel warf bereits am Anfang seine Schatten voraus. Das beste Beispiel der alten Garde ist wieder Konrad Adenauer. Bei seiner Wahl zum Bundeskanzler 1949 war er 73 Jahre alt und hatte bereits mehr Höhen und Tiefen erlebt als ein Leben normalerweise mit sich bringt. So hatte er bereits eine lange politische Karriere hinter sich, als Oberbürgermeister von Köln und als Präsident der oberen Kammer des preußischen Landtags. Damit ist er beispielhaft für viele der frühen Vertreter der Union. In den ersten Monaten und Jahren hatte die überwiegende Mehrheit des Führungspersonals eine politische Vergangenheit in der erweiterten Spitze der Zentrumspartei. Zu diesen gehörten frühere Reichsminister wie Andreas Hermes oder christliche Gewerkschaftsfunktionäre wie Jakob Kaiser oder Karl Arnold.

Es ist erstaunlich, wie schnell sich das ändern sollte. Viele der älteren Vertreter hatten inzwischen ein Alter erreicht, welches sie von politischem Engagement zunehmend abhielt. Andere konnten mit der Richtung der Partei immer weniger anfangen. Wieder andere wurden auf das politische Abstellgleis gesetzt. Eine neue Generation von Politikern wuchs heran, die ihre ersten Sporen nicht mehr in der Weimarer Politik, sondern in den frühen Nachkriegsjahren verdient hatte und wesentlich von Personen wie Adenauer und anderen CDU-Politikern geprägt wurde. Dazu gehörten insbesondere protestantische Mitglieder wie der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, aber auch jüngere, aufstrebende Politiker wie Rainer Barzel, der spätere Bundesaußenminister Gerhard Schröder oder der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Somit kam es unter der Ägide Adenauers zum Aufbau einer Partei, die sich zunehmend von ihren Vorgängerorganisationen löste.

Ausblick: Die CDU als Partei der Verantwortung?

Bei der Bundestagswahl 1949 ging die Union mit dem pathetischen Slogan „Es geht um Deutschland“ in den Wahlkampf. Hier wird noch einmal das Ziel, Verantwortung übernehmen zu können, besonders unterstrichen. Die Wahl ging denkbar knapp aus. Konrad Adenauer wurde erster Kanzler.

Seitdem ist bereits ein ganzes Lebensalter vorübergezogen. Unser Land und unsere Gesellschaft haben sich verändert. Für die CDU gilt das auch. Als ich als Jugendlicher im Wahljahr 2005 in die Union eintrat, war die Partei personell und inhaltlich eine andere. Entgegen der landläufigen Einschätzung ist sie dabei aber ihren eigentlichen Wurzeln in den meisten Hinsichten treu geblieben, wobei sich diese weniger auf ein strenges programmatisches Korsett als vielmehr auf eine allgemeine Haltung zur Politik beziehen. Die wesentlichen Eigenschaften, die sich schon in den Gründungsjahren herauskristallisierten, sind nahezu ungebrochen gültig. Ob sie ihren eigenen Maßstäben dabei immer gerecht wurde, muss jedoch jeder für sich selbst entscheiden.

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Über uns 
Björn Höfer ist Mitglied von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und promoviert in St Andrews und Potsdam im Bereich "Politischer Katholizismus zwischen Weimar und Bonn".

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